Pierre-Olivier Walzer: Professor und Schriftsteller.

4. Januar 1915 – 26. November 2000.

 

Aufgenommen am 2. Dezember 1992.

http://www.plansfixes.ch/films/pierre-olivier-walzer/

 

> Am Ende der vorletzten Spule legt er entmutigt den Kopf in die Hand. Das Bild erstarrt. Einen kurzen Moment erscheinen Verlassenheit und Trauer. Dann beginnt die nächste Spule. Pierre-Olivier Walzer hat noch nichts sagen können. Und die Zeit ist bald um. Da liegt das Elend. <

 

Der Film zeigt einen nahezu 78jährigen von schlanker, asketischer Statur. Der Körper drückt Beweglichkeit aus; das Spiel der Hände Zartheit und Sensibilität. Befragt von Bertil Galland kommt Pierre-Olivier Walzer während der Aufnahme drei, vier Mal sanft in Fahrt. Das erste Mal, als er über die Berufssparte des Vaters Auskunft geben soll: Uhrenwesen. Zuschneiden und Bohren von Rubinen. Das erinnert den alten Mann an die Uhrenarbeiterinnen. Sie zählten mit der Pinzette den ganzen Tag die Steine zu Dutzenden ab. Ein feines Lächeln umspielt Pierre-Olivier Walzers Lippen. Mit der rechten Hand imitiert er die flinken Bewegungen der Frauen. Sie gaben sich mit dieser Einförmigkeit zufrieden. Nun blickt er mit Verwunderung auf ihr kleines Leben.

 

Dem Interviewer passt das nicht. Nach seiner Vorstellung hat sich soeben eine Tür geöffnet, die ins Abseits führt. Deshalb pfeift er den Erzähler zurück. Für Bertil Galland geht es nicht um die Welt der Uhrenarbeiterinnen, sondern um die Person und Karriere des Universitätsprofessors und Herausgebers, der sich auch als Schriftsteller versteht (professeur et écrivain).

 

Galland verkennt, dass das poetische Leben im Dazwischen liegt: „Wollen wir uns finden, so dürfen wir nicht in unser Inneres hinabsteigen: draussen sind wir zu finden, draussen … etwas begegnet sich in uns mit anderem. Wir sind nicht mehr als ein Taubenschlag.“ (Hugo von Hofmannsthal: Das Gespräch über Gedichte.)

 

Walzer ja, der ist ein „intermédiaire“. In feinsinnigen Aufsätzen vermittelt er zwischen der Lyrik schwieriger, abseitiger Autoren und den Lesern. Aber der Interviewer lässt sich nicht verlocken, sich von Walzers Verwunderung ins Unbekannte ziehen zu lassen. Dabei macht das Staunen den Kern der philologischen Neugier aus: „Mein Verhältnis zum Text ist, ihn auch dann zu lieben und zu begehren, wenn er einen erst einmal fremd und abweisend anschaut. Und sich dann um ihn zu bemühen. Nicht um ihn zu erobern, sondern um von ihm erobert zu werden“, erklärt der Germanist Jochen Hörisch in einem Gespräch mit der F.A.Z. „Die fremden Buchstaben schauen mich so verführerisch an, dass sie sagen: folg mir in die Fremde. Nicht: folg mir in die Heimat.“

 

Zweimal noch kommt Pierre-Olivier Walzer dazu, Verwunderung auszudrücken: Als er von der Beschränktheit der internierten polnischen Adeligen spricht, die er während des Zweiten Weltkriegs an der Universität Freiburg i.Ü. unterrichtete, und als er das Mansardenzimmer von Charles-Albert Cingria beschreibt. Der arme Poet kauerte vor der Schreibmaschine, die er, mangels Tisch, auf einen Stuhl gestellt hatte. Mit den Zeigefingern der linken und der rechten Hand stach er auf die Tastatur. Walzer imitiert die Bewegung. Und wieder öffnet sich ein Dazwischen: „So war er … und ich dachte …“

 

Doch der Interviewer widersteht der Verlockung, Walzer ins Offene zu folgen. Er hat eine feste Vorstellung von dem, was beim Gespräch herauskommen soll, und merkt nicht, dass er damit nur lexigraphische Fakten erjagt, nicht aber die Person zum Reden bringt. Bezeichnenderweise wird keiner der imponierenden Lederbände im Rücken des Befragten geöffnet. Auch die Heiligenfigur in der Nische bleibt stumm. Sie bekommt nicht einmal einen Namen.

 

So vermitteln nun die „Plans Fixes“ nicht mehr als die Aussenseite eines braven, angepassten Kindes. „Besser, ich gestehe es gleich“, schreibt Pierre-Olivier Walzer am Anfang seiner Autobiografie, „nie hatte ich Lust, meinen Vater zu töten, nie hatte ich Lust, mit meiner Mutter zu schlafen ... Ich war ein schrecklich normales Kind.“

 

Dieses „schrecklich Normale“ führt nun aber beim Literaturprofessor an der Universität Bern zu ernüchternd trockenem Unterricht: „Er hatte den lebendigsten Gegenstand: die Literatur“, stellte einer seiner Studenten, der spätere Bieler Schuldirektor Jean-Roland Graf, fest, „und verbreitete damit die tödlichste Langeweile“.

 

Er war eben zu ängstlich, erklärte Walzers Kollege, der Professor für französische Philologie Roland Donzé. „Aus Furcht vor Widerspruch, auch aus Furcht, nicht oder falsch verstanden zu werden, wagte er nicht, seine brillanten Ideen vor den Studenten auszubreiten. Lieber hielt er sich ans Sichere und Langweilige.“

 

Einmal, erinnert sich Donzé, wurde er von Walzer gefragt: „Sag mal, mein Lieber – aber sei bitte ehrlich: Wie hoch ist bei dir der Anteil der wirklich begabten Studenten?“ – „Vielleicht ... zehn Prozent?“ – „Ach, du warst schon immer ein Optimist. Nach meiner Erfahrung ist es einer auf hundert.“

 

Trotz dieses Pessimismus, der auf Verletzlichkeit und Verletztheit zurückgeht, wird Pierre-Olivier Walzers Innerstes doch einmal vernehmbar. Am Ende des Films, wo er sein Gebet an Sankt Pantaleon, den Märtyrerbischof von Basel, vorliest. Es handelt sich, literarisch gesehen, bei diesem Gebet um ein mehrfaches Dazwischen: Einerseits nimmt es den Weg eines Heiligen auf, nicht den eines Professors, anderseits richtet es sich nicht an uns, sondern an den Erhöhten. Gleichwohl gilt auch hier: Was Peter über Paul sagt, sagt mehr über Peter als über Paul.

 

„Grosser Sankt PANTALEON, wie es dir beim ersten Ruf Ursulas und ihrer Gefährtinnen natürlich erschien, dich aufzumachen und den Zug anzuführen, so mach, dass wir uns immer bereit finden, alles aufzugeben, wie uns angewiesen ist, damit wir uns auf den Weg machen, auf frommem Wandel die Herde, für die wir Verantwortung tragen, in die weit entfernte Heilige Stadt zu bringen. Schenk uns Selbstlosigkeit in der Hingabe, Autorität im Gehorsam, Stärke im Wagnis.“

 

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