Marie Métrailler: Weberin von Evolène. 

1. März 1901 – 22. Juni 1979.


Aufgenommen am 17. September 1978 in Evolène.
http://www.plansfixes.ch/films/marie-metrailler/

> Bei der Begegnung mit Marie Métrailler lebt das Vergangene im Gegenwärtigen fort. Marguerite Yourcenar, die Schriftstellerin, die 1980 als erste Frau in die Académie Française aufgenommen wurde, hat es erfahren: „Ich weiss nicht, wie alt sie zum Zeitpunkt ihres Todes war, aber in ihr lebten wirklich Jahrtausende menschlicher Erfahrung.“ <

 

„Guten Tag. Ist hier noch frei?“ Mein Gott! Ein echter katholischer Priester in Soutane setzt sich auf die Bank gegenüber. Und gleich nimmt er Kontakt auf: „Sie sind nicht aus der Gegend? Ich schon. Ich bin hier aufgewachsen. Nun, wo ich pensioniert bin, lebe ich wieder im Tal. Vorher war ich Stiftsherr auf dem grossen Sankt Bernhard (chanoine du Grand Saint-Bernard). Was glauben Sie, wie alt ich bin? Zweiund­neunzig!“

 

Der leutselige Kirchenmann verbreitet eine ungewöhnliche Frische und Fröhlichkeit. Sein Optimismus wirkt zwar naiv, aber auch kernig und echt. „Sagen Sie, mein Vater, wie haben Sie es geschafft, so gut in Form zu bleiben? Was ist Ihr Geheimnis?“ „Oh, das ist ganz einfach. Ich sage immer: Wenn Gott auf die Erde schaut und dich zufälligerweise mit seinem Blick erfasst, soll er Freude haben, dich zu sehen, gleich wie wir Menschen uns freuen, wenn wir am Wegrand eine schöne Blume erblicken.“

 

Diese überraschende Freude erlebt jetzt der Betrachter, der das Porträt von Marie Métrailler aus den „Plans Fixes“ herunterlädt. Der Film entstand am Bettag 1978. Die Aufnahme erfolgte auf 1371 m über Meer. Die Kamera blickt durch ein offenes Fenster auf die Dächer eines Bergdorfs. Die Glocken läuten. Eine nahe Bergwand mit der Dent Blanche beschränkt den Horizont. Evolène liegt im Val d‘Hérence so weit vom Rest der Schweiz abgelegen, dass Italien näher ist als Sitten.

 

Hinter dem Tisch sitzt eine kleine, 77jährige Person. Sie wirkt wach, intelligent, selbstbewusst – und gleichzeitig bescheiden und lebenserfahren. Für die Aufnahme hat sie die Tracht angezogen. Das Hemd mit seinen steif gestärkten Ärmeln ist aus schönem weissem Tuch. Den Stoff hat sie selbst gewoben.

 

Marie Métrailler hat sich immer selber durchbringen müssen. Soweit die Erinnerung zurückreicht, war ihr Lebensgefühl bestimmt von Angst und Einsamkeit. Ewige Verdammnis hatte man dem drei, vierjährigen Mädchen prophezeit, als Strafe für eine Sünde, die ihm unbekannt war. Vielleicht hatte es, ohne es zu wissen, ein unanständiges Wort gebraucht. Aber nun wusste es, dass unter seinen Füssen die Flammen der Hölle loderten und dass der Boden jederzeit durchbrechen könne.

 

Schon hatte die kleine Marie erlebt, dass Leute nicht von der Arbeit zurückgekommen waren. Die Autobiographie erzählt davon. Die Angehörigen fanden die Vermissten dann zusammengekrümmt in einer Furche. Tot. Sie hatten sich nichts anmerken lassen und den Schmerz verbissen bis zum Tag, an dem sie zum Sterben ins Freie gegangen waren.

 

Im Tal gab es kaum Geld. Die Bewohner von Evolène waren Selbstversorger. Eingekauft wurden nur Salz, Eisen und Reis (aber nicht, um Risotto zuzubereiten, sondern das Festessen der Älpler: Milchreis). Maries Eltern waren die Schulmeister des Dorfs. Unterricht gaben sie nur im Winter. Von April bis Oktober hatte der Vater unbezahlten Urlaub. Dann ging er zum Sennen in die Savoyer Alpen. Dorthin nahm er auch die Söhne mit, als sie zum Helfen alt genug waren. Marie wurde im Haus und auf den Feldern gebraucht. Für die Mutter war Landwirtschaft die einzige anständige Arbeit.

 

Die Kirche predigte den Menschen von Messe zu Messe Verdammnis für ihre Sünden. Der strafende und rächende Gott, hiess es, sehe in jeden Winkel. Marie jedoch kamen kleine, unsichtbare Wesen zuhilfe. Feen besuchten sie bei ihren einsamen Arbeiten, und Zwerge, die nur sie sehen und hören konnte. Der Verkehr mit den guten Geistern gab ihr Mut. Sie begann, sich Geschichten zu erzählen, die zu ganzen Romanen auswuchsen.

 

So wurde das Wort, das selbstgeschaffene, zum Halt. Und ein solches Wort fliesst nun der kleinen Person auf dem geschnitzten Stuhl hinter dem Tisch von den Lippen. Es legt Zeugnis ab von einem harten Leben, das nicht vergebens gewesen ist. Heute ist eine Stiftung nach Marie Métrailler benannt. Denn als Pionierin hat sie sich und den Frauen im Tal durch die Belebung von Stickerei und Weberei Würde geschenkt und Beschäftigung gegeben.

 

Durch Nachdenken und Lesen fand sie den liebenden Gott. Er half ihr, das Alleinsein zu ertragen. Auf die Frage nach der Einsamkeit, gleich am Anfang des Films, reagiert sie mit einer Bewegung, die ergreift. Marie Métrailler hebt die Schulter, richtet den Blick nach unten, und formuliert ein resigniertes „Oh, bien sûr!“, in dem aber, wenn man genau hinhört, der Ansatz eines Lachens mitschwingt: „Alte Geschichten, längst verschmerzt“ (Kafka). Sie hat, „seit ich zu denken begann“, das Alleinsein gekannt. Aber es gibt nur diesen einen Weg: „Friss es aus und friss dich durch“, rief sich ein anderer Einsamer, Heinrich Schaumann, genannt Stopfkuchen, zu und zog sich damit aus dem Sumpf.

 

Jetzt sitzt Marie Métrailler am Fenster ihres Stübchens und zeugt für die Wahrheit der Verheissung: „Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden.“ (Matthäus 5,4) Damit wird jede Begegnung mit ihr zum Geschenk, unabhängig davon, ob man sie durch das Buch, den Film oder das Leben kennenlernt.

 

Das hat auch Marguerite Yourcenar erfahren, die Schriftstellerin, die mit verschiedenen hochdotierten Preisen und drei Ehrendoktortiteln (darunter einem von Harvard) ausgezeichnet wurde und als erste Frau 1980 in der Académie Française Einsitz bekam. In einem Brief an die Interviewerin der „Plans Fixes“, Marie-Magdelaine Brumagne, schreibt sie: „So seltsam es scheinen mag, aber ich denke, dass diese Walliserin, die ich vielleicht ein halbes Dutzend Mal getroffen habe, einer meiner Gurus war. Sie hat mir viel beigebracht, nicht nur über die Traditionen ihres Landes, sondern auch über das Leben, ich meine über ihre Art, das Leben zu sehen und zu leben. Je älter ich werde, desto mehr stelle ich fest, dass es Menschen gibt, die fast niemand kennen wird, die vielleicht sogar der Ironie oder dem Spott zum Opfer fallen – und dabei sind sie in Wirklichkeit einfach grossartig, oder rein. Es kam mir gleich vor, dass Marie Métrailler zu ihnen gehört.“

 

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