Pierre Graber: Sozialdemokratischer Politiker, Bürgermeister von Lausanne, Staatsrat, Bundesrat.


6. Dezember 1908 – 19. Juli 2003.

 

Aufgenommen am 20. Februar 1986 in Savigny.

http://www.plansfixes.ch/films/pierre-graber/

 

> Wenn im 20. Jahrhundert ein junger Mann durch Begabung auffiel, sagte man von ihm: «Er hat das Zeug zu einem Bundesrat.» Was ist darunter zu verstehen sei, lässt sich an der Begegnung mit Pierre Graber ablesen. Denn durch seine Persönlichkeit hat er es zum Bundesrat gebracht. <


In der ersten Einstellung der «Plans Fixes» verraten die beiden Männer durch ihre Körperhaltung gleich, wer der Bundesrat ist und wer der Journalist. Der Interviewer Bertil Galland hat die Arme über der Brust gekreuzt. Ein Barrieresignal, sagen die Körpersprachler. Die Verschanzung wird veranlasst von einem Gefühl der Unsicherheit. Es ist ja auch nicht leicht, einem überragenden Staatsmann auf Augenhöhe gegenüberzutreten. Hinter der Brustwehr behauptet das Haupt sein Daseinsrecht; derweil schützen die gekreuzten Arme das nervös, beziehungsweise ängstlich pochende Herz.

Bertil Galland gegenüber steht der Bundesrat. Auf seinem Gesicht zeichnet sich ein leichtes Höflichkeitslächeln ab. Die Hände sind hinter dem Rücken verschränkt. Ein Zeichen der Selbstsicherheit, sagen die Körpersprachler. Mit einer solchen Haltung treten die Offiziere vor ihre Truppe und signalisieren: «Ich fürchte euch nicht, obwohl ihr viele seid und ich nur ein einzelner.»

Die Überlegenheit von Pierre Graber, der nicht nur das Zeug zum Bundesrat hatte, sondern auch einer wurde, zeigt sich auch an der Art seiner Rede. Die Stimme ist geradlinig, gleichmässig und stark. Keine übertriebenen Ausschläge nach oben und unten. Sie würden ein Mass von Bindung und Anschmiegsamkeit vortäuschen, das nicht vorhanden ist (Tschü-hüüüs!). Kompensationshaltung nennen’s die Körpersprachler. Und der Volksmund sagt: «Leute, die singen, sind falsch.»

Alt Bundesrat Graber nun wirkt vom ersten Moment an authentisch. Er täuscht nichts vor. Er ist. Das macht ihn glaubwürdig. Und weil er glaubwürdig ist, hört man ihm zu und nimmt ihn ernst. Er hat aber auch etwas zu sagen.

 

«Es sei mir erlaubt», schrieb Arthur Schopenhauer, «hier beiläufig ein die redenden Künste betreffendes Gleichnis einzuschalten. Nämlich wie die schöne Körperform bei der leichtesten oder bei gar keiner Bekleidung am vorteilhaftesten sichtbar ist, und daher ein sehr schöner Mensch, wenn er zugleich Geschmack hätte und auch demselben folgen dürfte, am liebsten beinahe nackt, nur nach Weise der Antiken gehen würde  —  ebenso nun wird jeder schöne und gedankenreiche Geist sich immer auf die natürlichste, unumwundenste, einfachste Weise ausdrücken, bestrebt, wenn es irgend möglich ist, seine Gedanken andern mitzuteilen, um dadurch die Einsamkeit, die er in einer Welt wie diese empfinden muss, sich zu erleichtern: umgekehrt nun aber wird Geistesarmut, Verworrenheit, Verschrobenheit sich in die gesuchtesten Ausdrücke und dunkelsten Redensarten kleiden, um so in schwierigen und pomphaften Phrasen kleine, winzige, nüchterne oder alltägliche Gedanken zu verhüllen, demjenigen gleich, der, weil ihm die Majestät der Schönheit abgeht, diesen Mangel durch die Kleidung ersetzen will und unter barbarischem Putz, Flittern, Federn, Krausen, Puffen und Mantel die Winzigkeit oder Häßlichkeit seiner Person zu verstecken sucht. So verlegen wie dieser, wenn er nackt gehen sollte, wäre mancher Autor, wenn man ihn zwänge, sein so pomphaftes, dunkles Buch in dessen kleinen, klaren Inhalt zu übersetzen.»

 

Demgemäss bietet Pierre Gaber jetzt in seiner Rede Kern auf Kern – das heisst: durchgehende Substanz. Also das Gegenteil von dem, was man gemeinhin den Politikern nachsagt. Aus diesem Grund ragte er aus dem Gros heraus. Und darum hatte er das Zeug zum Bundesrat. Man erkennt auch bald, woher er seine Substanz bezieht: aus dem Willen, sich mit seiner Intelligenz und Begabung für die Benachteiligten einzusetzen und ihr Los verbessern zu helfen. 

 

Das hat ihm der Vater, ein Primarlehrer in La Chaux-de-Fonds, vorgelebt. Als überzeugter Christ war er von der Lethargie der Kirche enttäuscht worden. Nicht Lippenbekenntnisse hatte er von ihr erwartet, sondern Taten. Darum wandte er sich den Sozialisten zu. Er übernahm das Parteisekretariat für den französischen Landesteil und zog mit der Familie nach Bern. Daneben wirkte er im Nationalrat. Mit diesem Vorbild vor Augen hat sich die politische Überzeugung von Pierre Graber von Kindesbeinen an ausgebildet. Sie war ihm sozusagen natürlich. In der Folge übernahm er vom Vater das sozialdemokratische Parteisekretariat für die französische Schweiz, und Nationalrat wurde er auch.

 

Während Pierre Graber seine Lebensbahn nacherzählt und die Umstände, unter denen er sie verfolgte, entfaltet er eine Formulierungs- und Darstellungsgabe, die aufhorchen lässt. Er braucht die Sprache nicht, wie viele Politiker, als Maske. Deshalb ist das, was er sagt, glaubhaft. Die Forschung hat den Zusammenhang längst herausgefunden: «Wer hüstelt, nuschelt oder heiser klingt, wird weniger ernst genommen und schlechter verstanden als jemand, der laut und deutlich spricht.» (Süddeutsche Zeitung, 30.5.20)

 

Wie schrieb Lichtenberg? «Lerne deinen Körper kennen, und was du von deiner Seele wissen kannst, gewöhne dich zur Arbeit und lerne deine Bequemlichkeit überwinden, gewöhne deinen Verstand zum Zweifel und dein Herz zur Vertäglichkeit.» Damit bringt man es weit. Pierre Graber bis zum Bundesrat.

 

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