11. November 1917 – 8. März 2021.
Aufgenommen am 26. August 1991 in Lausanne.
Julien-François Zbinden – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)
> Der Interviewer Albin Jaquier macht eines gut und vieles schlecht. Und der Gesprächspartner Julien-François Zbinden macht alles richtig. Damit wird der Parcours spannend, zu dem sich das Gespräch für die „Plans Fixes“ ausgestaltet, denn die Sprünge, die Zbinden zu machen genötigt ist, sind geschmeidig, faszinierend und elegant. <
Es ist in der französischen Konversation Sitte, einander zu unterbrechen. Man zeigt sich damit, dass man voll bei dem ist, was der Sprechende aussagen will. Das Dreinreden suggeriert demnach, das Mitschwingen sei derart intensiv, dass man sich nicht nur selber vergessen habe, sondern gar in die Person des andern geschlüpft sei. Hier liege der Grund, warum man seiner Stelle weiterspreche und die Botschaft vollende. – Im deutschen Sprachraum hingegen ist das Unterbrechen verpönt. Hier signalisiert es kindliche Ungeduld, Unhöflichkeit, Ungezogenheit, Mangel an Respekt für den andern, Egoismus, Besserwisserei: „Erzähl mir nichts! Ich weiss schon alles!“
Die Gefahr, als überheblich wahrgenommen zu werden, kennt auch der Franzose. Darum gehört es zu seiner Kunst der Konversation, beim Unterbrechen die Mitte zu halten zwischen der banalen Interjektion („oh!“, „spannend!“, „unerhört!“) und dem ausformulierten Satz, der dem andern die Pointe aus dem Mund raubt. Da kann es nämlich geschehen, dass der sonst überaus kultivierte und beherrschte Roland Donzé (Romancier und Professor der Philologie) seine Frau mit kaum hörbarem Unterton fragt: „Chérie, erzählst du jetzt die Geschichte oder ich?“
Bei der Befragung des Komponisten Julien-François Zbinden für die „Plans Fixes“ trifft nun der Musikkritiker Albin Jaquier mit sicherem Takt den Grat zwischen Zuwenig und Zuviel. Zwischen 1980 und 1995 machte ihn dieses Vermögen bei Radio Suisse Romande Espace 2 zu einem vorzüglichen Interviewer. Mit Zwischenbemerkungen lockerte er das Gespräch auf und brachte Fluss in die Sache; durch die Bezogenheit auf den Partner schuf er in der Mikrofonsituation eine wohlwollend angenehme Atmosphäre; und indem sich Befragten getragen fühlten, kamen sie aus sich heraus.
Neben dieser grossen menschlichen Stärke bringt Albin Jaquier indes im Film auch einen ebenso grossen handwerklichen Fehler ins Spiel. Dieser Fehler führte dazu, dass die Befragung des Radiomanns und Poeten > Emile Gardaz durch Bertil Galland gründlich danebenging: „Erzählen Sie uns von den grossen Namen, die sie kennengelernt haben!“
Erstens bedeutet die Frage eine Unhöflichkeit. Sie geht von der Annahme aus, dass der Interviewte keine eigenständige Persönlichkeit habe und dass das Gespräch über ihn und seine kleine Welt kein Interesse haben könne. Zweitens führt sie zu einer Aufzählung vieler Namen, die für die Nachwelt keine Bedeutung mehr haben. Der Betrachter des Films erfährt dann bloss noch:
Da ich ansah alle meine Werke, die meine Hand getan hatte, und die Mühe, die ich gehabt hatte, siehe, da war es alles eitel und Haschen nach Wind und kein Gewinn unter der Sonne.
Der Prediger Salomo 2, 11.
Von Albin Jaquier im Schatzkästlein seiner Erinnerungen um Namen gebeten, macht nun aber Julien-François Zbinden alles richtig: Er charakterisiert das Hervorstechende von Personen mit einem Satz und übermittelt dann, was sie ihm gegeben haben. Und siehe, es war wertvoll.
– Die Lektionen bei der Pianistin Marie Panthès: „Ich lernte dort nicht Klaviertechnik, sondern Musik. Aus ihr erwuchs das richtige Spiel von selbst.“
– Der Unterricht von René Gerber, dem ersten Lehrer: „Er unterzog meine Kompositionen einer sorgfältigen Kritik; wies auf eine Stelle und fragte: ‚Warum hast du das so geschrieben?‘ Ich konnte es nicht erklären. Da zeigte er mir, warum der Teil richtig war, und ich begann zu begreifen, was komponieren heisst.“
– Das Zusammenspiel mit > Jane Savigny und > Jack Rollan in der Sendung „Jane et Jack“ bei Radio Sottens: „Vollkommen abenteuerlich. Natürlich live. Aber wir hatten für die Sendung häufig erst zwei Textblätter. Die anderen wurden von der Sekretärin nach und nach geliefert. Dazwischen mussten wir improvisieren.“
– Die Begleitung der Chansonstars: „Für mich als Pianist bedeutete das reine Akrobatik. Die Sänger brachten schlechtes Notenmaterial mit; auch Fernandel oder Joséphine Baker. Ich musste beim Spielen die Melodie um drei oder vier Töne transponieren und merken, wann sie das Tempo anzogen oder verlangsamten … oder eine Zeile übersprangen.“
– Die letzte Stunde mit dem Fluglehrer: „Ab jetzt kannst du dir vor dem Begräbnis nur noch einen Fehler leisten.“
Julien-François Zbinden brachte sich durch Aufmerken weiter. Mozart nannte es „Ablernen“: Beobachten, wie es die anderen machen, und sich ihr Können durch Nachahmen aneignen. Wenn es sitzt, weiterentwickeln. Seine Sache daraus machen, und nicht mehr länger die der anderen. So machte es auch Zbindens Radiokollege > Geo Voumard. Beide begannen als Unterhaltungsmusiker; spielten in Tanzlokalen, Bars und Grand Hotels; entdeckten dann den Jazz; wurden schliesslich selber entdeckt: „Als ich gefragt wurde, ob ich als Pianist für alles bei Radio Lausanne eintreten wolle, sagte ich zu, obwohl mir nur die Hälfte von dem angeboten wurde, was ich in der Band verdiente. Aber es war klar: Unterhaltungsmusiker ist nur etwas für junge Menschen. Ab dreissig wird der Job unmöglich. An Ehe und Familie ist nicht zu denken.“
So setzte Julien-François Zbinden mit dreissig den Fuss auf die erste Sprosse einer Leiter, die ihn ganz nach oben führte: Zweimal war er Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für die Rechte der Urheber musikalischer Werke (SUISA), einmal Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Neue Musik. Mit 61 wurde er zum Officier des Arts et Lettres ernannt. Jede Stufe aber gab ihm neue Gelegenheit zum Aufmerken und Ablernen.
Noch als Unterhaltungsmusiker brachte er sich, wenn er nachts um drei Uhr nach Hause kam, die Lehre vom Kontrapunkt autodidaktisch bei. Denn sein wahres Interesse, seine Leidenschaft galt seit je der sogenannten ernsten Musik. Am Radio aber rutschte er mit der Zeit hinters Mikrofon, ins Tonmeisterwesen, das nach 1960 ein eigener Studiengang wurde. Doch bei Julien-François Zbinden handelte es sich noch um ein Learning by doing. Damit brachte er sich nicht nur als Radiomann weiter, sondern auch als Komponist: „Ich hätte keine bessere Schule haben können, um das Instrumentieren zu lernen. Und auch die Eigenheit der verschiedenen Stile.“
Bei alledem blieb Julien-François Zbinden offen und tolerant. Als er am Sender das Amt des Musikchefs übernahm, machte es ihm keine Schwierigkeiten, Stücke zu programmieren, die seiner eigenen Überzeugung widersprachen, sofern nur die Qualität stimmte. Was das bedeutet, entfaltet sich in der letzten Tranche des Gesprächs mit Albin Jaquier. Die Feststellungen zum Wesen der Gegenwartsmusik, die die beiden treffen, sind seit der Aufnahme im August 1991 noch keineswegs überholt. Irgendwie tröstlich in einer Zeit, wo man meinen möchte, es sei alles ins Rutschen gekommen …