Jacques Chessex: Schriftsteller.

1. März 1934 –9. Oktober 2009.

 

Aufgenommen am 26. März 1988 in Ropraz.

Jacques Chessex – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Er solle doch eines seiner neuesten Gedichte vorlesen, fordert Bertil Galland zu Beginn der Aufnahme den Dichter auf, damit man einen Eindruck von ihrer „Tonalität“ bekomme. Jacques Chessex öffnet das Lyrikbändchen, das auf dem Pult bereitsteht, legt das Buchzeichen weg, das die Seite markierte, und trägt vor. Zwanzig Jahre später wird ihm dasselbe Thema – Lüsternheit und fleischliche Liebe – den Sekundenherztod bereiten. <

 

Nachvollziehbar, klar und gutwillig gibt Jacques Chessex für die „Plans Fixes“ Auskunft über das Schreiben, das eigene und das der Kollegen. Die Ausführungen enthalten keine Spur von Häme oder Herablassung. Vielmehr spricht der Lyriker, Romanschriftsteller und Literaturkritiker vom Werk der andern mit Dankbarkeit und Bewunderung, am meisten vom legendären Gustave Roud, dem Dichter der Dichter. Er fand kaum Leser. Aber die Jungen, die anfangen wollten zu schreiben, stellten ihn und seine Texte über alles. Von ihm sagt nun Jacques Chessex: „Ein Heiliger!“

 

Das Waadtland erlebte nach dem Zweiten Weltkrieg einen literarischen Aufschwung. Als Kritiker belegte das Jacques Chessex mit einer Reihe von Porträts. Sogar „la faculté“ stand in ungetrübtem Licht. Es gab an der Universität Lausanne aber auch zwei prägende Professoren: Den feinsinnigen > Jacques Mercanton, selber Schriftsteller, und den methodisch vorbildlichen Gilbert Guisan, Doktorvater der späteren Professorin und Ramuz-Herausgeberin > Doris Jakubec.

 

Vor Jacques Chessex’ Haus in Ropraz, einem 500-Seelen-Dorf, erfasst die Kamera nun das damals noch idyllische, landwirt­schaft­lich geprägte, unzersiedelte, sanft gewellte Plateau des Jorat. Die Aufnahme erfolgt 1988. Der Schriftsteller ist 54-jährig. Er trägt aber damals schon veraltete Gläser. In den Optikgeschäften nennt man sie heute „Retro-“ oder „Nostalgikbrille“. Zu ihrem Look passt Chessex’ eigenwillig geschnittener Backenbart, der an den weisshaarigen Kaiser Franz Joseph I. gemahnt.

 

Auf dem Pult des Dichters finden sich, neben einer Reihe von Stiften, auch zwei Tintenfässer der Marke Pelikan, ein grosses und ein kleines. Das grosse wahrscheinlich für die Kurrentschrift, das kleine für die Korrekturen. Aber keine Schreibmaschine. Kein PC. So muss es sein.

 

Aus New York schrieb der Emigrant Victor von Kahler am 27. Februar 1944:

 

Ihr Dichter, Ihr Schriftsteller, Ihr Journalisten – Ihr alle, mit denen mich das Leben zusammengeführt hat, Ihr hattet stets, obzwar manch ein überdimen­sionierter Schlampen unter Euch war, trefflich gespitzte Bleistifte aller Farben- und Härtegrade um euch, stets war Papier in allen Farben und Glätten zur Hand, und ich weiss, dass für euch die Stationery [Papeterie] zur Andachtsstätte wurde. Auch Sie, mein Herr, sind ein Fetischist des Schreib­materials …

 

Friedrich Torberg, als Jude ebenfalls emigriert, antwortete am 4. März 1944 aus Hollywood:

 

Ich muss Ihnen der Ordnung halber bestätigen, dass Ihr Verdacht in Bezug auf meinen Schreibmaterial-Fetischismus vollinhaltlich zutrifft. Jawohl, die Papierhandlung (gegen den Ausdruck „Stationery“ möchte ich mich denn doch verwahrt haben) ist eine Andachtsstätte, und noch heute überkommt mich ein heiliger Schauer, wenn ich mich an den grossen, weichen, sanft ziegelroten AKA-Radiergummi erinnere, den man hin- und herbiegen konnte, ohne dass er brach, nur der aufgedruckte Elefant verzerrte sich grotesk und furchterregend. Noch heute wüsste ich selbst in tiefster Dunkelheit (die uns ja auch wirklich umgibt) zwischen Rond- und Rhedis-Feder zu unterscheiden, ja ich mache mich sogar anheischig, die blaue Frosch-Feder nicht mit der goldenen zu verwechseln. Noch heute ziehe ich den grau-blau kleinkarierten Einband der dickeren Wichsleinwandhefte [sic!] einem einfach schwarzen bei weitem vor, und abgerundete Ecken sind mir lieber als scharfkantige, und ein [Bleistift] Kohinoor HB lieber als ein Hardmuth No. 2, und Reithoffers gute Wasserfarben lieber als Günther Wagner, und kurzum: damals lieber als heute …

 

Die Empfänglichkeit für die Schönheit und Würde des Vergänglichen und Vorübergehenden (cf. Baudelaire: „A une passante“, unter dem Titel „Einer Dame“ übersetzt von Walter Benjamin) brachte, wie alle Poeten, auch Jacques Chessex zur Kunst. Vielleicht wäre er Maler oder Komponist geworden, hätte er nicht die Vorbilder von Vater und Grossvater vor Augen gehabt, beides Männer der Schrift. „So wuchs ich mit Büchern auf.“

 

Die Bücher brachten den Waadtländer schliesslich auch in die letzte, grösste und schönste Ausgabe des Brockhaus (Leipzig, Mannheim 2006):

 

In seinem Werk verbindet sich die Darstellung von Zwangsvorstellungen (so eines erdrückenden Vaterbildes in dem Roman „L‘ogre“, 1973; dt. „Der Kinderfresser“) mit Themen wie Selbstzerstörung, Isolation, Melancholie, Erotik und Tod sowie einem ausgeprägten Sensualismus. C.’ Lyrik ist von älteren, oft barocken Formen inspiriert und schöpft ihre Metaphern aus Naturphänomenen; schreibt auch Erzählungen, Novellen, Chroniken, Kinderbücher und Literaturkritiken.

 

„Der Kinderfresser“ entstand nach dem Selbstmord des Vaters. Für den Roman erhielt Jacques Chessex 1973 den Prix Goncourt als bisher einziger Schweizer. Und dreissig Jahre später, 2003, von der Académie française noch für das Gesamtwerk „le grand prix de la langue française“.

 

Um der Nachwelt (Bertil Galland: „in fünfzig Jahren …“) einen Eindruck von der „Tonalität“ seiner Lyrik zu geben, öffnet Jacques Chessex nun vor der Kamera der „Plans Fixes“ das Lyrikbändchen, das auf dem Pult bereitsteht, legt das Buchzeichen weg, das die Seite markierte, und trägt vor: Die Verse besingen die schwarzen und die weissen Münder, die ein Ich geküsst hat, die Zungen, die sich aneinander rieben, die Brustwarzen, die das Ich benagt hat, die Vulven, die dem Ich Schauer der Wollust schenkten – doch jetzt ist dieses Ich zittrig, alt und blind geworden: „Was bleibt mir von meinen unzähligen Mädchen? Was bleibt mir von ihrem Lachen unter meinen toten Fingern?“ (Maintenant, je suis vieux et je suis aveugle. Que me reste-t-il de mes filles innombrables ? Que me reste-t-il de leur rire sous mes doigts morts ?)

 

21 Jahre nach Verlesung des Gedichts, am 9. Oktober 2009, erliegt der Autor mit 75 Jahren in der Stadtbibliothek Yverdon einem Herzinfarkt. Laut Sophie Anmuth von „L’Express“ war er dabei, einer Person zu antworten, die ihm vehement seine öffentliche Unterstützung für Roman Polanski vorwarf.

 

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