Suzette Sandoz: Der Geschmack des Worts.

12. Januar 1942 –

 

Aufgenommen am 25. November 2013 in Pully.

Suzette Sandoz – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Die 71-jährige Dame mit dem charmanten Namen Suzette Sandoz wurde 1990 an der juristischen Fakultät der Universität Lausanne die erste ordentliche Professorin. Lange betätigte sie sich neben Lehre und Forschung als Fürsprecherin des politischen Liberalismus. Sie vertrat ihn in der Studentenschaft, im Waadtländer Grossen Rat, im schweizerischen Nationalrat und in der Neuen Zürcher Zeitung. Als Spross einer sog. guten protestantischen Waadtländer Familie, die sich aus Akademikern und Berufsoffizieren im Oberstenrang zusammensetzte, war Suzette Sandoz von Haus aus begünstigt, das Beste aus sich zu machen. <

 

In Zollikofen steige ich in die S3 ein. Mein Ziel ist Biel. Wo sonst Kinderwagen stehen, liegen zwei zusammengefaltete Gummiboote. Sie gehören zu zwei sportlichen Paaren, die in Lyss aussteigen werden, um den Lyssbach und die alte Aare zu befahren. Ich gehe an ihnen vorbei. Das nächste Abteil ist leer. Gegenüber tauschen sich zwei alte Frauen angeregt über Alltagsthemen aus. Mit ihnen fährt ein stiller, etwa zehnjähriger Bub, offenbar das Grosskind der einen. Er blickt in ein dickes Buch, das auf seinen Knien liegt.

 

In einer Gesprächspause wendet sich die Begleiterin an den Jungen: „Was liest du da?“ Er hält den Buchdeckel hoch und antwortet: „Albert Schweitzer: Johann Sebastian Bach.“ „Ah, der Komponist der Europahymne!“ „Nein das war Beethoven. Bach hat Oratorien geschrieben. Die Matthäuspassion zum Beispiel. Die Europahymne stammt von Ludwig van Beethoven; sie kommt aus dem letzten Satz der neunten Sinfonie. Bach schrieb ‚Jesus meine Freude‘.“ „Was du nicht alles weisst“, rühmt die Begleiterin.

 

Der Zug erreicht Suberg. Die Frauen steigen mit dem Kind aus. Im rückwärtigen Abteil ertönt die Stimme eines Gummibootfahrers: „Wenn ich mit dem zur Schule gegangen wäre, ich hätte ihn zusammengeschlagen.“ Eine der jungen Frauen beschwichtigt: „Er ist ja schon mühsam. Aber verprügeln geht nicht.“ „Möchtest du denn ein solches Kind?“ „Nein, sicher nicht.“ „Eben.“ Wir kommen nach Lyss. Die Sportler stehen auf und packen ihr Freizeitmaterial.

 

Arthur Schopenhauer, der pessimistische Philosoph, hätte das Vorkommnis mit den Worten kommentiert:

 

Dem Philister [„Mensch ohne geistige Bedürfnisse“] werden Menschen mit überwiegend geistigen Fähigkeiten, wenn sie ihm aufstossen, seinen Widerwillen, ja seinen Hass erregen; weil er dabei nur ein lästiges Gefühl von Inferiorität und dazu einen dumpfen, heimlichen Neid verspürt, den er aufs sorgfältigste versteckt, indem er ihn sogar sich selber zu verhehlen sucht, wodurch aber gerade solcher bisweilen zu einem stillen Ingrimm anwächst. Nimmermehr demnach wird es ihm einfallen, nach dergleichen Eigenschaften seine Wertschätzung oder Hochachtung abzumessen.

 

Wer so geartet ist, braucht am Sonntag die alte Aare, den Nidau-Büren-Kanal und den Lyssbach. Nicht aber Johann Sebastian:

 

Ein grosses Leiden aller Philister ist, dass Idealitäten ihnen keine Unterhaltung gewähren, sondern sie, um der Langeweile zu entgehn, stets der Realitäten bedürfen. (Schopenhauer.)

 

Suzette Sandoz, die spätere Grossrätin, Nationalrätin, Professorin und Dekanin aus Lausanne war als Kind, wie vermutlich der kleine Bach-Spezialist, stets Klassenbeste. Der hohe Rang machte ihr Freude. Sie hatte keine Schwierigkeiten mit Französisch, Latein und Mathematik. Büffeln aber musste sie Biologie und Geographie – die vor allem, erklärt sie: „Sie glauben es nicht, aber ich habe ein schlechtes Gedächtnis. Zusammenhänge kann ich mir gut merken. Aber einzelne Wörter! Warum heisst dieser Fluss so und nicht anders? Das geht mir nicht in den Kopf.“ Um bei den Realitätenfächern an der Spitze zu bleiben, musste Suzette Sandoz abends in ihrem Zimmer hart arbeiten: „Oft habe ich vor Entmutigung geweint; aber nicht aufgegeben.“

 

Warum tat sich das Mädchen die Mühe an? Aus Stolz? Aus Eitelkeit? Den Unterschied zwischen den beiden Charakterzügen hat Arthur Schopenhauer definiert. Sein Schluss:

 

Nur die feste innere, unerschütterliche Überzeugung von überwiegenden Vorzügen und besonderm Wert macht wirklich stolz. Diese Überzeugung mag nun irrig sein oder auch auf bloss äusserlichen und konventionellen Vorzügen beruhen – das schadet dem Stolze nicht, wenn er nur wirklich und ernstlich vorhanden ist.

 

Wenn wir die 71-jährige Suzette Sandoz davon reden hören, was sie im Leben erreicht hat, denken wir an Stolz. Aber Achtung! Das verleiht uns keine Überlegenheit. Schopenhauer gibt nämlich zu bedenken:

 

Sosehr nun auch durchgängig der Stolz getadelt und verschrien wird, so vermute ich doch, dass dies hauptsächlich von solchen ausgegangen ist, die nichts haben, darauf sie stolz sein könnten.

 

Also Vorsicht. Die redefreudige, streitlustige Intellektuelle, der die Gegner reaktionäre Gesinnung und Geschwätzigkeit vorwerfen, ist gewappnet gegen die Anfeindungen:

 

Doch werden wir allmählich gleichgültig dagegen, wenn wir von der Oberflächlichkeit und Futilität [Belanglosigkeit] der Gedanken, von der Beschränktheit der Begriffe, von der Kleinlichkeit der Gesinnung, von der Verkehrtheit der Meinungen und von der Anzahl der Irrtümer in den allermeisten Köpfen eine hinlängliche Kenntnis erlangen und dazu aus eigener Erfahrung lernen, mit welcher Geringschätzung gelegentlich von jedem geredet wird, sobald man ihn nicht zu fürchten hat oder glaubt, es komme ihm nicht zu Ohren; insbesondere aber, nachdem wir einmal angehört haben, wie vom grössten Manne ein halbes Dutzend Schafs­köpfe mit Wegwerfung spricht. Wir werden dann einsehn, dass, wer auf die Meinung der Menschen einen grossen Wert leget, ihnen zu viel Ehre erzeiget. (Schopenhauer.)

 

Mit ihrem scharfen Verstand, ihrer geistigen Unabhängigkeit, ihrer protestantischen Werthaltung und ihren politisch liberalen Überzeugungen (nicht den ökonomischen, wie sie betont) vertritt Suzette Sandoz Positionen, die ihr den zwiespältigen Ruhm radikaler, links aber verhasster Queerness eingetragen haben. Über die Nationalrätin schreibt die deutschsprachige Wikipedia:

 

Sie erarbeitete sich den Ruf einer Antifeministin. Sie bekämpfte die Revision des Eherechts, den Kündigungssschutz für schwangere Frauen, die Schaffung von Gleichstellungsbüros und das Gleichstellungsgesetz. Ihrer Ansicht nach ist seit der Einführung des Frauenstimmrechts die Gleichberechtigung von Mann und Frau erreicht, ausser beim Rentenalter, wo sie für die Erhöhung auf 65 Jahre für Frauen plädiert hat. Sie wird mit den Worten zitiert: „Das Geschlecht darf kein Kriterium sein, ausser bei der Heirat.“ Diesem Verständnis von Ehe gemäss lehnt sie auch die Ausdehnung der Ehe auf gleichgeschlechtliche Paare ab.

 

Natürlich hat Suzette Sandoz in ihrer Karriere „die prosaische Wahrheit“ berücksichtigen müssen, dass, wie Schopenhauer sagt, „zu unserm Fortkommen und Bestehn unter den Menschen die Ehre, d. h. die Meinung derselben von uns oft unumgänglich nötig ist“. Doch hat sie es geschafft, die Menschen, die ihre Überzeugungen teilen, an der sieUrne hinter sich zu bringen.

 

Heute nun, mit 71, ist die Emerita von allen Rücksichten befreit und kann vor der Kamera nichts als sich selber sein. Für Schopenhauer das Ideal:

 

Wenn eine Bekehrung von der allgemeinen Torheit uns gelänge, so würde die Folge ein unglaublich grosser Zuwachs an Gemütsruhe und Heiterkeit und ebenfalls ein festeres und sichereres Auftreten, ein durchweg unbefangeneres und natürlicheres Betragen sein.

 

Diese Tatsache bringt der Film der „Plans Fixes“ über die 71-jährige Dame mit dem charman­ten Namen Suzette Sandoz ihren Widersachern und Freunden zur Anschauung.

 

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