Alberto Sartoris: Architekt.

2. Februar 1901 – 8. März 1998.

 

Aufgenommen am 25. März 1987 in Cossonay-Ville.

Alberto Sartoris – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Alberto Sartoris starb im Alter von 97 Jahren. Mit 86 empfing er die Kamera der „Plans Fixes“ zu einer Rückschau auf sein Wirken als Architekt und Lehrer. „Ich bin immer noch ein Kind“, sagte er damals. Und er hatte recht: Geistige Arbeit erhält jung. Wer ihn im Film kennenlernt, gibt ihm sein Alter nicht. <

 

Das 25. Kind des Ratsherrn Heinrich Sulzer in Winterthur wurde auf den Namen Johann Georg getauft. Die Eltern bestimmten es für die theologische Laufbahn. Doch unter dem Einfluss der Aufklärung geriet es aus der Spur und wurde Philosoph. Aus seiner Feder erwuchs um 1770 die „Allgemeine Theorie der Schönen Künste“, die erste deutschsprachige Enzyklopädie, die alle Gebiete der Ästhetik systematisch behandelt.

 

Zum Stichwort „Baukunst“ findet sich darin folgendes:

 

Wir betrachten hier die Baukunst nur insofern der Geschmack einen Anteil daran hat; das Mechanische darin, obgleich jeder Baumeister dasselbe genau verstehen muss, gehört nicht hieher. Dieses, nebst dem Wissenschaftlichen, das der Baumeister aus der Mathematik schöpfen muss, davon abgesondert, so bleibt noch genug übrig, um dieser Kunst einen Rang unter den schönen Künsten zu geben. Das Genie, wodurch jedes gute Werk der Kunst seine Wichtigkeit und innerliche Grösse oder die Kraft bekommt, sich der Aufmerksamkeit zu bemächtigen, den Geist und das Herz einzunehmen; den guten Geschmack, wodurch es Schön­heit, Annehmlichkeit, Schicklichkeit und überhaupt einen gewissen Reiz bekommt, der die Einbildungskraft fesselt: diese Talente muss der Baumeister so gut als jeder andre Künstler besitzen.

 

Dass „der Baumeister so gut als jeder andre Künstler“ aufzufassen sei, bestä­tigt sich an Alberto Sartoris. Bei ihm gibt es keine Grenze zwischen Architektur und Kunst, weil er Architektur als Kunst betreibt, ja gar als Gesamt­kunst­­werk. Seinem Sinn entspricht es nicht, dass der Architekt dem Bauherrn bloss eine Hülle abliefert. Vielmehr soll sich der Baukünstler auch um die Gestaltung der Innenräume kümmern, bis auf die Möbel, die Farbe der Wände und die Spülarmaturen.

 

Mit dieser Auffassung fand Alberto Sartoris nicht viele Kunden. Nur zehn Prozent der Entwürfe konnte er ausführen. Das war eine Folge seines Trotzes; und sein Trotz war eine Folge der Eigenständigkeit: „Ich kümmere mich nicht darum, ob ich einen Bauherrn habe oder nicht. Wenn mich ein Objekt interessiert, zeichne ich die Pläne bis hinunter auf die Detailebene.“ Mit der Zeit entstand eine Sammlung imaginärer Architektur. Sie hat den Ruf des Urhebers begründet:

 

Sein Ansehen erwarb er sich vor allem durch Axonometrien von idealen Projekten, die als Kunstwerke wahrgenommen wurden, und die er bis in die 1990er Jahre als Siebdrucke herausgab.

(Historisches Lexikon der Schweiz.)

 

Es ging Alberto Sartoris nicht anders als seiner Kollegin Zaha Hadid. 2004 hatte sie als erste Frau den Pritzker-Preis gewonnen, also den wichtigsten internationalen Architekturpreis, der in der Branche dem Nobelpreis gleichgestellt wird. Auch bei ihr überwiegt die Zahl der Pläne die Zahl der Ausführungen:

 

Aufträge bekam sie anfangs nur zögerlich: für die Moosoon-Bar in Sapporo (realisiert 1989/90) und im Rahmen der Internat. Bauausstellung (IBA) für ein Wohnhaus in Berlin-Kreuzberg (realisiert 1988–93). International für Aufsehen sorgte ihr 1993 in bizarren Formen errichtetes Feuerwehrhaus der Firma Vitra Design in Weil am Rhein. (Brockhaus Enzyklopädie.)

 

Bei Alberto Sartoris vermerkt das Historische Lexikon der Schweiz:

 

S. konnte nur wenige Bauten nach seinen rationalistischen Vorstellungen verwirklichen, so 1932 die Kirche Lourtier (Gem. Bagnes) sowie Wohnhäuser in Saillon (1934) und Corseaux (1939).

 

Und wie Zaha Hadid mit den Entwürfen für das Opernhaus von Cardiff geriet Sartoris mit seinem Projekt für die Kirche von Lourtier in eine üble Medien­kampagne, angeführt von der „Gazette de Lausanne“. Über das Objekt des Hasses berichtet die „Illustrierte schweizerische Handwerker-Zeitung: unab­hängiges Geschäftsblatt der gesamten Meisterschaft aller Handwerke und Gewerbe“ 1932:

 

Verschwendet man Worte, wenn man die Architektur Sartoris als Sklavin der theoretischen Spekulation betrachtet? Wenn wir sagen, dass ein Mann, ohne Zweifel mit unserem Heimatboden nicht ganz vertraut, versessen bis zum äussersten auf die geometrische Figur, hinging und ins schöne Val de Bagnes eine Kirche hinpflanzte, die ebenso gut ein Schweineschlachthof oder ein Flugzeugschuppen sein könnte?

 

Man versichert uns indessen, dass diese ganze Angelegenheit eine Geldsache sei, und das zwei Berner Architekten bei ihren Projektberechnungen das Budget überschritten. Das ist möglich, und wir begreifen in diesem Falle die Unbehilflichkeit einer kleinen Gemeinde sehr gut. Aber war das Budget einmal aufgestellt und akzeptiert von Herrn Sartoris, erlaubte es nichts anderes als diese „Baracke aus Kandiszucker“, diesen mitten entzweigeschnittenen Kirchturm aufzustellen? – Erlaubte es nur eine Bedachung des „Schiffes“ mit Wellblech? Schauen Sie genauer hin! Keine Vorsorge gegen den Regen. Die Dachtraufen fehlen. Wohl weil sie mit zu viel Nachdruck an die klassischen Beispiele mahnen, an unsere „lächerlichen Vorfahren“!

 

Und siehe da, die guten Leute von Lourtier sind gezwungen, ihre Messe in dieser Autogarage zu absolvieren, worin einzig ein summarisches Kreuz in aller Härte den heiligen Charakter andeutet. Sie verstehen es sehr gut, wenn andere sich empören, während sie resigniert sind. In der Tat besteht in dieser Verpflanzung bolschewistischer Architektur in unsere Berge ein Anzeichen von Geschmacks­perversität.

 

Umgekehrt halten Alberto Sartoris und Zaha Hadid die Postmoderne Architektur für eine „intellektuelle Katastrophe“. Sie habe den Fortschritt „um Jahrzehnte zurückgeworfen“. Wie Zaha Hadid (geboren in Bagdad, ausgebildet in London) schwebt auch Alberto Sartoris (geboren in Turin, ausgebildet in Genf) über den Kulturen. Aber beide ziehen Schüler an. Auf sie trifft demnach zu, was Max Beerbohm am 18. Juli 1925 an Sir Edmund William Gosse schrieb. Der Adressat war ein einflussreicher britischer Literaturhistoriker, Schriftsteller und Kritiker. Er wurde 1925 in den Ritterstand erhoben:

 

Obwohl Sie von Beginn Ihrer Karriere Früchte hervorbrachten, hat Ihre Arbeit das Interesse an den Werken Ihrer Zeitgenossen nie getrübt; und als die Jahre vergingen und Männer, die jünger waren als Sie, begannen, Schriftsteller zu werden, waren die Anfänge und Fortsetzungen dieser jüngeren Männer und dann wieder von Männern, die jünger waren als diese, nie ohne die Sympathie Ihrer eifrigen Natur; und die Freundlich­keit, mit der Sie auf junge Rücken klopften, schien nur Ihre Worte der Warnung zu verstärken, die Sie gleichzeitig in junge Ohren flüsterten. Ermutigung, verbunden mit Anleitung - was braucht das junge Herz mehr?

 

Wie bei Zaha Hadid kam es im Fall der „établissements Lesieur et Labeyrie“ in Dunkerque und Biarritz beim 82-jährigen Alberto Sartoris zur Zusammen­arbeit des Meisters mit zweien seiner Schüler. Sie erstellten die Industrie­komplexe termingerecht und ohne Kostenüberschreitung.

 

Wer den Namen eines guten Baumeisters in seiner ganzen Bedeutung verdienen will, muss nicht nur reich an natürlichen Talenten sein, sondern auch aus den meisten Künsten und Wissenschaften viel gelernt haben. In der Weitläufigkeit der Talente und der Kenntnisse eines vollkommenen Baumeisters, und in der aufwendigen Art, sie zu erlangen, liegt ohne Zweifel der Grund, warum er seltener als ein grosser Maler oder ein grosser Dichter ist. – Jedem Staat ist daran gelegen, dass eine Anzahl guter und redlicher Baumeister ausgebildet werde, welche reichlich bezahlt werden.

(Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste.)

 

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