7. September 1928 – 28. August 2012.
Aufgenommen am 3. Oktober 1997 in Lausanne.
André Steiger – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)
> Im Alter von 59 Jahren erklomm André Steiger den Olymp. Die Comédie-Française lud ihn ein, zwei Inszenierungen zu übernehmen. Es war das erste Mal in der 307-jährigen Geschichte des Instituts, dass ein Schweizer diese Aufgabe versah. Dort realisierte er 1987 „Le Véritable Saint-Genest“ von Rotrou und 1989 „Amour pour amour“ von Congreve. Der gebürtige Genfer brachte eine reiche Erfahrung mit. Bis zur Aufnahme der „Plans Fixes“ (zehn Jahre später) konnte er auf 250 Inszenierungen zurückblicken. <
Der bekannteste Germanist der Nachkriegszeit war Benno von Wiese. Selbst Schweizer Gymnasiasten wussten, dass es ihn gab. An der Universität Bonn quoll das Auditorium Maximum über. Zu den Vorlesungen fuhr er, wie Augenzeugen berichten, „vierspännig“ ein: Vier Assistenten schritten voraus und trugen dem Ordinarius das Material zur Lehrkanzel.
In seinen Erinnerungen beschreibt Benno von Wiese eine „abenteuerliche Reise“ in der Kriegszeit:
Heinz Kindermann hatte zu einem Treffen in Wien eingeladen. Man tat so, als lebten wir noch im Frieden. Politische Gespräche wurden peinlich vermieden. Gegenseitiges Misstrauen zeichnet es sich ab. Doch in einem guten Hotel kostenlos zu wohnen und die selbst im Krieg so liebenswürdige Stadt Wien zu geniessen, war für alle Eingeladenen ein Labsal. Vorzüglich spielte Kindermann den Maître de plaisir. Als Theaterwissenschaftler hatte er sich im Laufe der Zeit einen bedeutenden Namen gemacht.
Unter Kindermanns bedeutendem Namen erschien 1939, ein Jahr nach dem „Anschluss“ Österreichs ans Deutsche Reich, „Das Burgtheater. Erbe und Sendung eines Nationaltheaters“. Im Vorwort steht:
Die Heimkehr der Ostmark führt auch für dieses traditionsreiche Kulturinstitut eine neue Epoche herauf: das Tor zu einer neuen Glanzzeit öffnet sich. Da es zu den eigenständigen Erkenntnissen unserer neuen Epoche gehört, die Kunst nicht als Ding an sich, sondern als volkformende Kraft im politischen Werdeprozess der Nation anzusehen, wurde hier erstmals der Versuch einer politisch und weltanschaulich begründeten Theatergeschichte unternommen, die von den Grundwerten: Rasse, Volk, Reich ausgeht.
Im Kapitel über die legendäre Direktion Heinrich Laubes führt Kindermann aus:
Als Holbein eben abging, stand das Engagement des polnischen Juden Dawison zur Debatte. Die Behörde wollte ablehnen. Laube aber setzte sich so energisch für Dawison ein, dass er engagiert wurde. Er hat dann durch seine intellektualistisch-talmudische Art gar manche wichtige Rolle verdorben. Und was hat nicht bis noch tief ins 20. Jahrhundert hinein der von der jüdischen Presse hochgelobte und von Laube engagierte Jude Sonnental an orientalischen Verzierungen grösster Klassikerrollen verschuldet! Wer die verhängnisvolle Rolle des Judentums im Wiener Geistesleben studieren will, der muss gerade auch dieses Echo Sonnentals hören, weil es hier nicht um den leichter erkennbaren Typ des zynischen, sondern um den viel stärker getarnten des sentimentalen Juden geht. Mit welchen Mitteln sein Bild auch nach seinem Tode noch von seinen Artgenossen den arischen Wienern als das eines Überlebensgrossen eingehämmert wurde, mögen nur wenige Zeilen aus dem Nekrolog Felix Saltens [jüdischer Herkunft, geboren als Siegmund Salzmann], der in der Kriegs- und Nachkriegszeit in der Wiener Asphaltpresse die tonangebende Rolle spielen wollte, dartun ...
Auf der andern Seite hatte auch André Steiger als Theatermann seine Sendung: Er verkündete den Arbeitern das richtige Bewusstsein, das heisst das kommunistische. Die Aufführungen demaskierten den Kapitalismus. Doch nach der zweiten Produktion verlangten die linksgewerkschaftlichen Zuschauer von ihm ein Stück von Molière: „Die Klassiker hat man uns bis heute vorenthalten. Sie sind das Theater der Bourgeoisie, finanziert mit dem Mehrwert, den wir erarbeitet haben. Jetzt wollen wir sie kennenlernen und prüfen, was sie uns zu sagen haben.“ Als er sich dem Auftrag zu unterziehen suchte, merkte der 21-jährige Büroangestellte, wie viel ihm noch fürs Inszenieren fehle, und schrieb sich für zwei Jahre am Centre d’apprentissage d’art dramatique de la rue Blanche in Paris ein.
Darauf gründete er mit 24 die Comédie du Centre-ouest, ein selbstverwaltetes Kollektiv, das im Limousin von Ort zu Ort zog und in Gemeindesälen, Wirtshäusern und Schulen Molière, Shakespeare, Calderón, Lesage und Priestley aufführte. Massgebend war es – allein schon aus ökonomischen Gründen – nicht am Publikum vorbeizuspielen. Aus dieser Notwendigkeit entwickelte André Steiger seinen Regiestil: Er weckt durch Vergnügen das Interesse des Publikums, hält es durch Genuss (jouissance) in einer aufnahmefreudigen Haltung und führt es durch Intelligenz zu einer neuen Sicht auf die Welt.
Auf diesem Kurs sah sich André Steiger bestärkt durch Bertolt Brecht. Der schrieb am 16. Juni 1950 ins Arbeitsjournal:
lese eine arbeit über gorki und mich, von einer arbeiterstudentin in leipzig verfasst. ideologie, ideologie, ideologie. nirgends ein ästhetischer begriff; das ganze ähnelt der beschreibung einer speise, bei der nichts über den geschmack vorkommt. wir müssten zunächst ausstellungen und kurse für geschmacksbildung veranstalten, dh für lebensgenuss.
Mit seiner Herkunft aus dem Volk, ohne Gymnasialbildung, ohne Diplom eines Master of Arts, hält André Steiger nichts von einem Theater, das sich selber wichtiger nimmt als die Zuschauer, und nichts von Regisseuren, die sich als „Schöpfer“ (créateurs) verstehen: „Wir sind Interpreten, wie Toscanini sagte, nicht Komponisten.“ Mit dieser Auffassung wirkte er ein halbes Jahrhundert lang in Frankreich, Belgien und der Schweiz. Er hatte prominente Mitstreiter. Etwa den Bühnenbildner > Roland Deville (Ständig neue Räume schaffen, in denen die Vorstellungen den besten, das heisst den richtigen, das heisst den stimmigen, das heisst den wahren Ausdruck finden.) und bei der Truppe > Roger Jendly (In der Vervielfältigung möglicher Biographien quer durch alle Zeiten und Epochen hindurch liegt für den grossen sanftmütigen Schauspieler der Reiz des Theaters.), > Séverine Bujard (Lernen, den Text zu lesen: Verstehen, was die Wörter bedeuten. Nachvollziehen, was in den Dialogen geschieht. Das Ungesagte erspüren, das dahinter lauert.) und > Yvette Théraulaz (Gut ist die Wahrheit, nicht die Lüge. Gut ist die Aufrichtigkeit, nicht die Angeberei. Gut ist die Unerschrockenheit, nicht die Feigheit. Gut ist die Authentizität, nicht die Angepasstheit.)
Claus Bremer, der kluge deutsche Dramaturg, hat das Ganze in einem Essay über „Die Herstellbarkeit des Vergnügens auf dem Theater“ zusammengefasst:
Alles, was nicht zur Stellungnahme zwingt, ist Ablenkung. Ablenkung von unserem Selbst. Sie hindert die Menschen daran, sich als Menschen bewusst zu werden. Sie unterstützt die Mörder und ihre Helfer. Sie gefährdet uns.
Sich selbst zu begegnen, beziehungsweise auf sich selbst angewiesen sein, mag für manchen kein Vergnügen bedeuten. Wenigstens zunächst nicht. Ich habe es gehört, dieses „Lassen Sie uns doch mal aussteigen, mal schwerelos werden, wir wollen doch auf eure Tricks hereinfallen, mal abgelenkt werden von etwas, das doch gar nicht zu bewältigen ist“.
Wer so redet, dem fällt nicht auf, dass er unentwegt aussteigt. Dass er unentwegt auf Tricks hereinfällt. Dass er unentwegt abgelenkt wird. Wodurch erst all das möglich ist, worunter er leidet.
Die Jungen beginnen uns auszulachen, wenn wir ihnen sagen, kommt ins Theater. Wenn aber die theatralische Herstellbarkeit der Selbstfindung und Selbstbehauptung von Zuschauern beziehungsweise Zuhörern gleichbedeutend mit der Herstellbarkeit des Vergnügens auf dem Theater ist, ist das Ziel eines Theaters erreicht, für das ich mich einsetze.
Die Theaterutopie, von der Claus Bremer träumte, hat André Steiger ein halbes Jahrhundert lang im französischen Sprachraum realisiert. Dort blüht sie heute noch auf den grossen Bühnen, wenn auch von den Deutschen mangels Sprachkenntnissen unbeachtet.