21 Januar 1944 –
Aufgenommen am 10. Dezember 2014 in Sitten.
Liliane Varone – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)
> Durch Eintritt in die Redaktion des „Nouvelliste“ im Alter von 19 Jahren hat sich Liliane Varone als erste Berufsjournalistin im Wallis einen Namen gemacht. Zwischen 1963 und 2005 berichtete sie über den Kanton für die grossen Printmedien von Lausanne und Genf und für Radio und Fernsehen der Westschweiz. Das trug ihr den Vorwurf der Nestbeschmutzung ein … und daraufhin Polizeischutz. Der „Nouvelliste“ titelte: „Bringt sie zum Schweigen!“ (Faites-la taire!) <
Als Liliane Varone zu wirken begann, war das Wallis fest in der Hand der Kirche. Die Politik war katholisch-konservativ. Die Christlichdemokratische Volkspartei (CVP) hatte die absolute Mehrheit in Regierung und Parlament. Die Lokalpresse war mit den Mächtigen verbunden und mischte mit. Vetternwirtschaft, Korruption und Machismus bestimmten den Alltag. Damit bot das Wallis ein Bild, das überall und jederzeit zu finden ist. Jacob Burckhardt beschrieb es in seinen „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“:
Die Menschen sind teils unsicher und zerfahren und leicht zum Anschluss bereit, zum Teil neidisch oder sehr gleichgültig.
Bei diesem Bild schaute Liliane Varone genau hin.
Das grosse Individuum übersieht und durchdringt jedes Verhältnis, im Detail wie im Ganzen, nach Ursachen und Wirkungen. Dies ist eine unvermeidliche Funktion seines Kopfes. Auch die kleinen Verhältnisse sieht es, schon weil sie in der Multiplikation gross werden. (Burckhardt)
Anschaulich, engagiert und lebendig erzählt die 70-Jährige, wie ein Communiqué sie den Savro-Skandal entdecken liess. Die Mitteilung, dem Kanton seien gewisse Leistungen zweimal fakturiert worden, weckte in ihr den Verdacht, dahinter könnten weitere Unredlichkeiten stecken, gemäss Arthur Schopenhauers Beobachtung:
Der Charakter ist schlechthin inkorrigibel; weil alle Handlungen des Menschen aus einem inneren Prinzip fliessen, vermöge dessen er unter gleichen Umständen stets das gleiche tun muss und nicht anders kann.
Und siehe da: Die Doppelfakturierung erwies sich als Ausfluss prinzipieller Unredlichkeit des Bauunternehmens Savro. Es betrog den Kanton systematisch durch falsches Mass und Gewicht. Und wie immer bei Korruption, erklärt Liliane Varone, wurde das Schweigen der Behörden erkauft durch Frauen und Autos.
Auf dem Terrain, wo sie mit den Menschen redete, erfuhr die Journalistin Stück für Stück die Details zu den illegalen Praktiken. Dabei sagten ihr die Leute: „Wir haben immer gedacht, dass das auf die Länge nicht gut gehen könne“.
Wenn aber Burckhardt schrieb:
Die grossen Männer sind zu unserem Leben notwendig, damit die weltgeschichtliche Bewegung sich periodisch und ruckweise freimache von blossen abgestorbenen Lebensformen und von reflektierendem Geschwätz ...
... so zog die Journalistin den Hass der Profiteure und Mächtigen auf sich. Wohlmeinende Stimmen rieten ihr, sich zu mässigen. Andere warnten, es könnten Nahestehende zu Schaden kommen. Die Bewegungen ihrer Tochter, hiess es, würden registriert. Doch Liliane Varone hielt durch wie ein „grosses Individuum“:
Es sieht überall die wirkliche Lage der Dinge und der möglichen Machtmittel und lässt sich durch keinen blossen Schein blenden und durch keinen Lärm des Augenblicks betäuben. (Burckhardt)
Indem die Journalistin bei ihrer Tätigkeit offen blieb und den Menschen unvoreingenommen Gehör schenkte, bekam sie immer häufiger Wind von dem, was sich tat und vorbereitete. Sie vernachlässigte es aber nicht, das Vernommene zu verifizieren. So kann sie jetzt in ihrem Filmporträt sagen:
In meiner gesamten Karriere – auch wenn das nach Prahlerei tönt – hatte ich es nie nötig, etwas zu berichtigen. Ich habe immer alles überprüft. Nie ist mir bei den grossen Fällen ein falsches Komma unterlaufen. Das verdanke ich meiner Überprüfung der Quellen. Bei allem hielt ich strenge Aufrichtigkeit durch. Ich war vielleicht eine Nervensäge, aber streng.
Bei der Aufnahme für die „Plans Fixes“ im Jahr 2014, neun Jahre nach dem Übertritt in den Ruhestand, verrät Liliane Varone den Namen ihres Hauptinformanten, 27 Jahre nach dessen Ableben: Guy Genoud. Er war 1969-85 CVP-Staatsrat für Inneres, 1975-87 Walliser Ständerat, ab 1983 Chef der CVP-Fraktion. 1972 Gründer und erster Präsident der Walliser Landwirtschaftskammer. Als Vertreter des konservativen CVP-Flügels bekämpfte er den UNO-Beitritt der Schweiz. 1985 gründete er das Mouvement conservateur et libéral valaisan, das dem traditionalistischen Priesterseminar Ecône nahe steht.
Ein paar Tage vor seinem Tod öffnete der Mann in einem langen Gespräch der vertrauten und gleichzeitig verschwiegenen Journalistin seine innerste Seelenkammer. Da wehte ein Hauch durch die Stube, und Liliane Varone erfuhr die von Jacob Burckhardt beschriebene Paradoxie:
Nicht jede Zeit findet ihren grossen Mann, und nicht jede grosse Fähigkeit findet ihre Zeit. Vielleicht sind jetzt sehr grosse Männer vorhanden für Dinge, die nicht vorhanden sind.