Benjamin Haller: 40 Jahre im Dienst von Migros Waadt.

17. März 1932 – 29. Dezember 2012.

 

Aufgenommen am 11. Mai 1994 in Ecublens.

Benjamin Haller – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Sobald der Titel aus dem Jahr 1994 auf dem Bildschirm erscheint, zeigen die ausgefransten Buchstaben an, dass die Aufnahme vor dem Umkopieren von Zelluloid auf elektronisches Format nicht restauriert worden ist. Offenbar fand sich kein Sponsor. Demzufolge geriet der damalige Leiter der Migros Waadt Benjamin Haller an den Rand des heutigen „Plans Fixes“-Sortiments. <

 

Benjamin Haller (Leiter der Migros Waadt) und Heinrich Schliemann (Entdecker Trojas) traten nicht als Gymnasiasten und Studierte, sondern als Lehrlinge ins Erwachsenenleben ein. Beide dienten im Handel. Benjamin mit den Lebensdaten 1932 bis 2012 im Verkauf von Früchten und Gemüsen, Heinrich mit den Lebensdaten 1822 bis 1890 im sogenannten vermischten Warenhandel:

 

Fünf und ein halbes Jahr diente ich in dem kleinen Krämerladen in Fürstenberg. Meine Tätigkeit bestand in dem Einzelverkauf von Heringen, Butter, Kartoffelbranntwein, Milch, Salz, Kaffee, Zucker, Öl, Talglichtern usw., in dem Mahlen der Kartoffeln für die Brennerei, in dem Ausfegen des Ladens und ähnlichen Dingen. Natürlich kam ich hierbei nur mit den untersten Schichten der Gesellschaft in Berührung. Von 5 Uhr morgens bis 11 Uhr abends war ich in dieser Weise beschäftigt, und mir blieb kein freier Augenblick zum Studieren. Überdies vergass ich das wenige, was ich in meiner Kindheit gelernt hatte, nur zu schnell.

 

Trotzdem: Wenn man die beiden ehemaligen Lehrlinge von ihren Anfängen reden hört, wird man beeindruckt von der souveränen Statur, die sie im Lauf des Lebens gewonnen haben. Mit hellem Bewusstsein, ohne Wischiwaschi, Verworrenheit und Imponiergehabe geben die beiden Auskunft über sich und ihre Verhältnisse. Das soziale Talent, das sie auszeichnet, prägt ihre Mitteilung in Form menschenfreundlicher Zugewandtheit. Als 1964 in Lausanne die schweizerische Landesausstellung stattfand, kannte Benjamin Haller alle tausend Namen seiner Waadtländer Mitarbeiter.

 

Als Chef hatte er den Job von unten auf gelernt. In der Lehrzeit beim Früchte- und Gemüsehandel war er zu allem verwendet worden, auch zum Ordnen der Korrespondenz. Dabei war er auf den Gedanken gekommen, die Mitteilungen nicht nur abzulegen, sondern auch zu lesen. Auf diese Weise gewann er Einblick in die Geschäftstätigkeit und begann, sie zu verstehen. Sein Name verbreitete sich in der Branche.

 

Eines Tages rief ihn der Leiter von Migros Waadt an: Ob er bereit wäre, für die Kette den Früchte- und Gemüsehandel aufzuziehen. Benjamin Haller sagte augenblicklich zu. Er war nur wenig über zwanzig. Und schon kam eins zum andern. In einer Filiale lernte er die zwanzigjährige Leiterin kennen. Sie wurde seine Frau. Wenn das Menschliche stimmte, kam man bei der Migros rasch voran.

 

Dasselbe erfuhr auch Benjamin Hallers Jahrgänger Jules Kyburz, der Nachfolger von > Pierre Arnold als Präsident des Migros-Genossenschafts­bunds. Nach dem Eintritt in die Migros mit 20 wurde er mit 21 Filialleiter in Basel. Mit 23 wurde er Familienvater. Mit 29 übernahm er den Migros-Markt Zug. Als 34-Jähriger wurde er Verkaufschef der Genossenschaft Migros St. Gallen. Mit 40 berief man ihn zum Geschäftsleiter der Migros-Genossenschaft Bern. Mit 52 kam er in den Migros-Genossenschaftsbund, und mit mit 60 wurde er dessen Vorsitzender bis zu Alter von 68 Jahren.

 

In prägender Jugendzeit haben Kyburz und Haller gelernt, sich durchzubeissen. Jules riss mit 18 aus, wanderte an der englischen Südküste von Schiff zu Schiff und fragte nach Arbeit. Auf einem Tanker fand er eine Heuer, zuerst als Schiffsjunge, dann als Leichtmatrose und zuletzt als rechte Hand des Stewards: „Es war eine wertvolle Zeit. Unter dem gewalttätigen und ungehobelten Schiffsvolk lernte ich, hart gegen mich zu sein. Ich hatte keine Wahl. Es hiess durchhalten.“

 

Auch Benjamin lernte durchhalten. Als Sohn einer protestantischen Familie wurde er im Wallis gemobbt. Bei der protestantischen Jugend (jeunesse paroissienne) fand er Zuflucht. Er brachte es dort zum Führer, und das protestantische Ethos, das ihm die Eltern beigebracht hatten, wurde persönlichkeitsbildend: „Wir sind hier Aussenseiter“, hatte ihm die Mutter erklärt. „Wir stehen unter Beobachtung. Deshalb musst du dich vorbildlich benehmen. Sonst haben wir Schwierigkeiten.“

 

Bei der Migros fand Benjamin Haller den gleichen Anstand und die gleichen Werte wie im Elternhaus. Es ging ihm wie Jules Kyburz: „Vom ersten Tag an fühlte ich mich von diesem Betrieb gepackt und verändert. Ich spürte: Hierher gehöre ich. Das passt zu mir.“ Das Vorbild der Chefs beeindruckte die jungen Mitarbeiter. Haller wie Kyburz lernten, sich rückhaltlos einzusetzen: „Das Wort Arbeitszeit habe ich nicht gekannt. Für mich gab es nur die Freude an meiner Aufgabe.“

 

Kyburz fand am Chef Orientierung. „Für ihn hätte ich alles getan. Er wurde mein Vorbild: sehr streng, aber korrekt, kompromisslos und geradlinig; und hinter der rauhen Schale spürte man den weichen Kern. Der Mann ist jetzt siebzig Jahre alt und mein bester Freund. Noch mit fünfzig halte ich mich an ihn.“

 

Haller seinerseits lernte vom Chef, eine Viertelstunde vor den andern zu kommen und eine Viertelstunde nach ihnen zu gehen: „Wenn der Betrieb angefangen hat, muss man für die Mitarbeiter zur Verfügung stehen.“ Gleichlautend sagt Kyburz: „Chef sein darf nicht heissen: Macht ausüben. Das Geheimnis des Erfolgs liegt vielmehr darin, dass der gute Chef die Stärken seiner Mitarbeiter erkennt und diese fördert, statt ununterbrochen auf den Schwächen herumzureiten. Schauen Sie: Je weiter man nach oben kommt, desto wichtiger wird das Menschliche, während das rein Fachliche zurücktritt. Darum muss ein guter Chef immer Zeit haben. Zeit für seine Mitarbeiter und Zeit für sich. Wenn sich das Unerledigte auf dem Pult eines Chefs stapelt, dann ist er der Arbeit nicht gewachsen.“

 

Benjamin Haller und Jules Kyburz leiteten (man darf das heute fast nicht mehr sagen) den Betrieb nach christlichem Verständnis. „Ich bin nicht religiös“ erklärte Jules Kyburz, „wenn Sie damit meinen, ich würde beten, die Predigt besuchen und kirchliche Frömmigkeit üben. Aber ich bin religiös, wenn es darum geht, die Bibel auf den Alltag zu beziehen, sie als Verhaltenskodex für das Zusammenleben mit anderen Menschen aufzufassen. Praktisch heisst das: Man soll versuchen, den anderen etwas zuliebe zu tun, statt sich gegenseitig umzubringen.“

 

Und heute? „Jobs, Produkte und Leistungen: weg, weg, weg“, titelte Benita Vogel am 21. Mai auf SRF. Schon am 23. April hatte das Nachrichtenportal gemeldet: „Geschäfte wie Hotelplan, Mibelle, SportX oder Melectronics sollen verkauft werden, andere Unternehmensteile sind auf dem Prüfstand. Bei der Migros-Gruppe selber mit knapp 100’000 Angestellten sollen bis zu 1500 Vollzeitstellen wegfallen – der grösste Abbau in der fast 100-jährigen Geschichte der Genossenschaft.“

 

Die Kommentatorin erklärte: „Die Rotstift-Strategie trägt die Handschrift von Migros-Genossenschaftsbund-Chef Irminger. Von den 15 Thesen der Migros-Gründer Gottlieb und Adele Duttweiler habe er vor allem eine verinnerlicht, heisst es Migros-intern: den Leistungsvorsprung – um das Optimum an Wirtschaftlichkeit sicherzustellen.“

 

So steht es gegenwärtig mit dem Unternehmen. Vor dreissig Jahren noch hatte Benjamin Haller dargelegt: „Wir sind bei der Migros eine Familie.“ Doch heute liegt sein Film am Rand des „Plans Fixes“-Sortiments. Für eine Restaurierung fand sich kein Sponsor. Jetzt sind die Titelbuchstaben ausgefranst. Das Bild hat seinen Glanz verloren.

 

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