31. März 1950 –
Aufgenommen am 19. Juni 2014 in Lausanne.
Jean-François Amiguet – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)
> Angst und Not trieben Jean-François Amiguet in das Erfinden von Geschichten. Als Kind vertrug er nämlich die Schule nicht – genauer: deren Pausen. Während die Mitschüler der Bewegungslust nachgaben, schloss er sich, weit weg von ihnen, in der Toilette ein. Dort kam er aus Langeweile auf den Gedanken, sich auszumalen, was die Kameraden wohl erlebten, und nach einem Jahr fand er den Mut, ihnen das Erfundene vorzutragen. Da zeigte sich: „Was du dir ausgedacht hast, hat sich so zugetragen. Es ist die Wahrheit.“ <
Jean-François Amiguet gehört zur zweiten Generation der welschen Cineasten. Die erste – bestehend aus > Alain Tanner, Michel Soutter, Claude Goretta – hatte den Westschweizer Film als eigenständige Qualitätsmarke etabliert und zu internationalem Ansehen gebracht. Nun rückten die Nachfolger an. Sie wurden beflügelt vom Werk der Vorgänger. Als Vermittler betätigte sich der Leiter der Cinémathèque > Freddy Buache. An den Vorführungen, die er moderierte, traten die angesehenen Vorbilder auf und erwiesen sich als ansprechbare Wesen für die nachstrebende Jugend, ja fast schon als Kollegen.
„Filmen war damals noch einfach“, erklärt Jean-François Amiguet. „Man organisierte sich mit ein paar Freunden, schaute, dass man zu einer Kamera kam, und fing an.“ Die zweite Generation stürzte sich mit gleicher Unbefangenheit in die Praxis wie die erste: Nichts von Hochschulen. Nichts von Bachelor. Nichts von Master. Allen ging es wie Friedrich Schiller, der als 22-jähriger Medizinstudent „Die Räuber“ schrieb, Johann Wolfgang von Goethe, der im Alter von 25 Jahren den „Faust“ verfasste, und Georg Büchner, der als 23-jähriger Medizinstudent den „Woyzeck“ zu Papier brachte. Trotz der fehlenden einschlägigen Ausbildung spricht man heute noch von ihnen – den Urhebern wie den Werken.
Gelernt haben diese Grossen „on the Job“, wie auch die Schauspielerin > Jane Savigny und der Musiker > Geo Voumard. Und bei allen verlief die Ausbildung nach der alten Methode: „Entweder du kannst es, oder du bekommst einen Tritt in den Arsch.“ Am Gymnasium führte die sogenannte Aufsatzerziehung von der Beschreibung zur Schilderung und von dort weiter zur Interpretation und zum Besinnungsaufsatz („Sollen die Drogen freigegeben werden?“), ohne dass eine Minute lang Aufsatztheorie vorgetragen worden wäre. Die Schüler lernten ihre Denk- und Argumentations-Skills nicht von den Lehrern, sondern von selbstgewählten Vorbildern. Heute heisst diese Vorgehensweise „selbstorganisiertes Lernen“.
Doch der Bildungsphilosoph Roland Reichenbach warnt:
Von so viel Eigenverantwortung profitieren Kinder, denen Schule sowieso leichtfällt. Das führt zu einer Pädagogik der Privilegierten. Sie haben durch den sozioökonomischen Status der Eltern oder deren Interesse an Bildung einen Vorteil. Kinder, die aus verschiedenen Gründen weniger leistungsmotiviert sind, müssen an der kürzeren Leine geführt werden, brauchen mehr Rückmeldung und Vorgaben.
Jean-François Amiguet und seine Freunde gehörten zu den Privilegierten. Was den Film anging, fiel ihnen das Lernen leicht. Sie waren „leistungsmotiviert“. Dabei merkten sie:
Die bloss erlernte Wahrheit klebt uns nur an wie ein angesetztes Glied, ein falscher Zahn, eine wächserne Nase oder höchstens wie eine rhinoplastische aus fremdem Fleische; die durch eigenes Denken erworbene aber gleicht dem natürlichen Gliede: Sie allein gehört uns wirklich an. (Arthur Schopenhauer.)
Das Resultat:
Die Werke aller wirklich befähigten Köpfe unterscheiden sich von den übrigen durch den Charakter der Entschiedenheit und Bestimmtheit, nebst daraus entspringender Deutlichkeit und Klarheit, weil solche Köpfe allemal bestimmt und deutlich wussten, was sie ausdrücken wollten – es mag nun in Prosa, in Versen oder in Tönen gewesen sein. Diese Entschiedenheit und Klarheit mangelt den übrigen, und daran sind sie sogleich zu erkennen.
Vor der Kamera der „Plans Fixes“ breitet Jean-François Amiguet im Alter von 64 Jahren seinen Werdegang aus. Bemerkenswert daran ist, wie bereitwillig er Kritik annahm. Das unterscheidet ihn vom „mittleren Studenten“, wie ihn Walther Killy, damals Literaturprofessor und Rektor der Universität Göttingen, beschrieben hat:
Hang zur Anonymität, Selbstmitleid angesichts von Kritik.
Sucht der Professor in individueller Kritik die Schwächen einer einzelnen Arbeit begreiflich zu machen, so trifft er auf Schüler, die nicht lernen und etwas über sich selbst erfahren, sondern sanft behandelt sein wollen. Sie haben tausend Gründe bei der Hand, weshalb ihr Versuch misslang – die Zeit war zu kurz, der Text zu lang, die Aufgabe zu schwer, die Formulierung zu weit oder zu eng, und überdies „haben wir das noch nie gemacht“.
Killys Ausführungen schildern ein Verhalten, das offensichtlich zum mittleren Menschen gehört, unabhängig von Epoche und sozialen Verhältnissen. Sein Essay erschien nämlich am 2. Januar 1963 in der „Zeit“ ...
Jean-François Amiguet indes nahm, im Unterschied zum mittleren Studenten, jede Belehrung ohne Wehleidigkeit an. Kritik führte ihn zur Verbesserung der Projekte. 1988 brachte es sein Kinofilm „La Méridienne“ ans Festival von Cannes:
Ein verletzlicher Träumer droht sich bei der Suche nach der idealen Frau in die fixe Idee einer grossen Leidenschaft zu verrennen und den Boden unter den Füssen zu verlieren. Den beiden Schwestern, mit denen er seit zehn Jahren in einem schmucken alten Haus zusammenlebt, gelingt es jedoch, ihn mit praktischer Lebens- und Liebeshilfe in die Wirklichkeit zurückzuholen. Eine charmante, traumwandlerisch leichte, fast zu flüchtige Komödie über das Ideal der Liebe; mögliche tragische Klippen der Geschichte werden mit schnörkelloser Ironie elegant umschifft.
ab 14 Jahren
(filmdienst.de )
Wie hart das Los eines Cineasten und Künstlers ist, zeigt sich an Jean-François Amiguets letztem Projekt: „Der Mann, der seinen Grossvater erzählte“ (L’homme qui racontait son grand-père). Es sollte der zweite Teil einer neuen Trilogie werden. Aber der Film wurde nie gedreht, die Trilogie nie abgeschlossen. That’s life.
Jeder, welcher aus den ersten Jugendträumen erwacht ist, eigene und fremde Erfahrung beachtet, sich im Leben, in der Geschichte der Vergangenheit und des eigenen Zeitalters, endlich in den Werken der grossen Dichter umgesehn hat, wird, wenn nicht irgendein unauslöschlich eingeprägtes Vorurteil seine Urteilskraft lähmt, wohl das Resultat erkennen, dass diese Menschenwelt das Reich des Zufalls und des Irrtums ist, die unbarmherzig darin schalten, im Grossen wie im Kleinen, neben welchen aber noch Torheit und Bosheit die Geissel schwingen; daher es kommt, dass jedes Bessere nur mühsam sich durchdrängt, das Edle und Weise sehr selten zur Erscheinung gelangt und Wirksamkeit oder Gehör findet, aber das Absurde und Verkehrte im Reiche des Denkens, das Platte und Abgeschmackte im Reiche der Kunst, das Böse und Hinterlistige im Reiche der Taten, nur durch kurze Unterbrechungen gestört, eigentlich die Herrschaft behaupten; hingegen das Treffliche jeder Art immer nur eine Ausnahme, ein Fall aus Millionen ist, daher auch, wenn es sich in einem dauernden Werke kundgegeben, dieses nachher, wenn es den Groll seiner Zeitgenossen überlebt hat, isoliert dasteht, aufbewahrt wird gleich einem Meteorstein aus einer anderen Ordnung der Dinge, als die hier herrschende ist, entsprungen. – Was aber das Leben des einzelnen betrifft, so ist jede Lebensgeschichte eine Leidensgeschichte: denn jeder Lebenslauf ist in der Regel eine fortgesetzte Reihe grosser und kleiner Unfälle, die zwar jeder möglichst verbirgt, weil er weiss, dass andere selten Teilnahme oder Mitleid, fast immer aber Befriedigung durch die Vorstellung der Plagen, von denen sie gerade jetzt verschont sind, dabei empfinden müssen – aber vielleicht wird nie ein Mensch am Ende seines Lebens, wenn er besonnen und zugleich aufrichtig ist, wünschen, es nochmals durchzumachen, sondern, eher als das, viel lieber gänzliches Nichtsein erwählen.
Wenn man nun endlich noch jedem die entsetzlichen Schmerzen und Qualen, denen sein Leben beständig offen steht, vor Augen bringen wollte; so würde ihn Grausen ergreifen: und wenn man den verstocktesten Optimisten durch die Krankenhospitäler, Lazarette und chirurgischen Marterkammern, durch die Gefängnisse, Folterkammern und Sklavenställe, über Schlachtfelder und Gerichtsstätten führen, dann alle die finsteren Behausungen des Elends, wo es sich vor den Blicken kalter Neugier verkriecht, ihm öffnen und zum Schluss ihn in den Hungerturm des Ugolino blicken lassen wollte; so würde sicherlich auch er zuletzt einsehn, welcher Art dieser „meilleur des mondes possibles“ [beste aller möglichen Welten] ist. Woher denn anders hat Dante den Stoff zu seiner Hölle genommen als aus dieser unserer wirklichen Welt?
(Arthur Schopenhauer)
That’s life.