Jean-Pierre Jelmini: Historiker.

Pl7. Februar 1942 –

 

Aufgenommen am 2. Juli 2008 in Neuenburg.

Jean-Pierre Jelmini – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Um seinen Staatsroman „Die Dämonen“ zu verfassen, benutzte Heimito von Doderer angeblich die „Chronik des Sektionsrates Geyrenhoff“, in welcher der österreichische Beamte bemerkt: „Ja, in der Tat gälte es nur den Faden an einer beliebigen Stelle aus dem Geweb’ des Lebens zu ziehen, und er liefe durchs Ganze“. Für die „Plans Fixes“ hat das der Neuenburger Historiker Jean-Pierre Jelmini getan. Jetzt verbindet sich in seinem Porträt die persönliche Geschichte mit der des Kantons. <

 

Jean-Pierre Jelminis persönliche Geschichte beginnt mit der Einwanderung der beiden Grossväter aus Italien ins neuenburgische Val de Travers. Der eine kam als Minenarbeiter in den Stollen – wie später auch der Sohn (Jean-Pierres Vater), der andere zur Bahn. Dort verlor er bei einem Manövrier-Unfall ein Bein. Zu seinem Lebensunterhalt entstand daraufhin der Bahnhofkiosk von Fleurier. Er wurde für den Enkel zum Paradies.

 

Jean-Pierre Jelminis Stimme belebt sich, wenn er von den vielen interessanten Artikeln spricht, die er einordnen half. Die Mary-Long-Schachtel, der Totozettel, die Illustrierte standen ja für bestimmte Bedürfnisse der Kundschaft und präfigurierten die Aussagekraft der Dokumente, die dem studierten Historiker später durch die Hand liefen. Bei dieser Tätigkeit fühlte er sich wie ein Minenarbeiter in seinem Schacht, wenn er fern vom Tageslicht in den Kellergewölben des Neuenburger historischen Archivs die Spuren der Vergangenheit durchstöberte. Lokalgeschichte und Weltgeschichte verschränken sich: „Ja, in der Tat gälte es nur den Faden an einer beliebigen Stelle aus dem Geweb’ des Lebens zu ziehen, und er liefe durchs Ganze.“

 

Die gleiche Einsicht brachte die Psychoanalyse hervor. Jean-Pierre Jelmini unterzog sich ihr während langer Zeit vier, fünf Tage pro Woche. Am Ende brachte sie Heilung von seiner Todesangst: „Zwanzig Jahre lang hatte ich mich nicht in den Zug setzen können. Ich fürchtete, unterwegs zu sterben. Jetzt weiss ich, dass meine Angst vor dem Tod einem Gefühl von Schuld entstammte.“ Die Schuld lag darin, Gottes Liebe ausgeschlagen und seinen Willen verraten zu haben. Denn der himmlische Vater hatte ihn eigentlich auf die geistliche Laufbahn angesetzt.

 

„Ich war gut in der Schule“, erzählt der Historiker. „Der Priester hatte Freude an mir. Er suchte meine Eltern auf und schlug vor, mich zu den Benediktinern nach Engelberg zu schicken.“ Dem Zwölfjährigen gefiel die Vorstellung, eines Tages in schönen Kleidern vor der Gemeinde predigen zu können. Er liebte den gottesfürchtigen Mann, der so viel Gutes für ihn wollte, und noch mehr liebte er den Herrn im Himmel. „Meine Frömmigkeit ging bis zur Mystik“, sagt Jean-Pierre Jelmini und meint damit wohl: Bis zur Entgrenzung; bis zum Erlebnis der Verschmelzung seiner Seele mit Gott.

 

Aber mit neunzehn geriet der Zögling der Klosterschule auf einen anderen Weg. Als er am Bahnhofkiosk von Engelberg nach einem französischen Buch fragte, befand sich nur „Die Pest“ von Nobelpreisträger Albert Camus im Sortiment. Der Titel aber stand auf dem Index der verbotenen Bücher. Gleichwohl schmuggelte ihn Jean-Pierre Jelmini in seine Zelle. Und da las er:

 

Paneloux ist ein Gelehrter. Er hat nicht genug sterben sehen, und deshalb spricht er im Namen einer Wahrheit. Aber der kleinste Landpfarrer, der seine Gemeindemitglieder begleitet und den Atem eines Sterbenden gehört hat, denkt wie ich. Er würde das Elend heilen, anstatt zu versuchen, dessen überragende Qualität zu demonstrieren.

 

„Der Satz hat mich erschüttert“, erklärt Jean-Pierre Jelmini. „Und auch der folgende“:

 

Vielleicht ist es besser für Gott, dass man nicht an ihn glaubt und mit aller Kraft gegen den Tod kämpft, ohne die Augen zum Himmel zu richten, wo er schweigt.

 

„Die beiden Stellen weckten in mir viele Fragen. Ich schrieb meinem Beichtvater, erhielt aber keine Antwort. Daraufhin legte ich die Soutane aufs Bett und verliess an einem Morgen im Februar 1961 das Kloster“, erzählt Jelmini. „Mein Grossvater, ein alter Antiklerikaler, lag im Sterben. Als ich hereinkam, richtete er sich auf: ‚Ich sehe, dass Jean-Pierre zurückgekommen ist’, sagte er noch und verschied. Das tönt romanhaft, ich weiss. Doch jeder Roman ist in Wirklichkeit nur eine mediokre Darstellung von Geschichte.“

 

Die Geschichte von Menschen, mit denen man sich verbunden fühlt, die Beschäftigung mit Orten, an denen man lebt, und das Interesse für Verhältnisse, die einen geprägt haben, führten Jean-Pierre Jelmini zu seiner Bestimmung, Geschichtsschreiber von Neuenburg zu werden. Von 1972 bis 2000 amtierte er als Konservator des historischen Museums und des Archivs der Stadt Neuenburg. Bei seiner Frühpensionierung mit 58 Jahren belohnte ihn die Universität Neuenburg mit der Würde eines Ehrendoktors. Er aber widmete sich fortan verstärkt der Geschichte der Institutionen und der Mentalitäten in seinem Kanton.

 

Diesen 20. Juni erscheint laut Amazon vier Monate nach Jean-Pierre Jelminis 82. Geburtstag der Titel „Éloge de la verticalité. Carnets de route d’un voyageur sédentaire.“ (Lob auf die Senkrechte. Wegbücher eines sesshaften Reisenden.) Der Titel hätte Nietzsche gefallen:

 

Nach dem Westen zu wird die moderne Bewegtheit immer grösser, so dass den Amerikanern die Bewohner Europas insgesamt sich als ruheliebende und geniessende Wesen darstellen, während diese doch selbst wie Bienen und Wespen durcheinanderfliegen. Diese Bewegtheit wird so gross, dass die höhere Kultur ihre Früchte nicht mehr zeitigen kann; es ist, als ob die Jahreszeiten zu rasch aufeinander folgten. Aus Mangel an Ruhe läuft unsere Zivilisation in eine neue Barbarei aus. Zu keiner Zeit haben die Tätigen, das heisst die Ruhelosen, mehr gegolten. Es gehört deshalb zu den notwendigen Korrekturen, welche man am Charakter der Menschheit vornehmen muss, das beschauliche Element in grossem Masse zu verstärken.

 

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