10. Januar 1924 – 3. April 2021.
Aufgenommen am 17. Dezember 1990 in L’Auberson, La Prise Perrier.
André Margot – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)
> Die Aufnahme zeigt’s: Im letzten Jahrhundert waren die Winter noch schneereich. Wenn Jacques Baumann Uhren am Werktisch (établi) zusammensetzte, war es so still, dass er vernahm, wie sich die Flocken aufs Atelierdach setzten. Am anderen Ende des Jurabogens feilte André Margot derweil die feinen Metallzungen zurecht, durch deren Vibration in Musikdosen der Klang entsteht. Fünfzig Jahre hindurch blickten die beiden Heimarbeiter auf kleine, glänzende Metallteile. Doch wenn sie den Kopf hoben, trat ihnen hinter breiten Wiesen ein Saum von dunklen, schweigenden Tannen entgegen. So erlebten sie im letzten Jahrhundert ihren Arbeitstag. <
André Margot sitzt hinter dem Atelierfenster am Tisch. Draussen ist die Gegend tief verschneit. Der 66-jährige Musikdosenstimmer hat die Winter nie anders gekannt. „Wenigstens räumen sie jetzt die Wege“, bemerkt er dankbar. „In meiner Jugend musste man sich noch durchschaufeln. Wir machten alle Gänge zu Fuss. Morgens und abends brachten wir die Milch ins Dorf. Das Vieh warf wenig ab. Darum waren wir froh, unser Geld durch Paillard und Thorens, die grossen Unternehmen von Sainte-Croix, verdienen zu können.“
Chansonnier > Michel Bühler, der Befrager, nickt. Er stammt selber aus der Gegend. Er hat sogar Romane über sie geschrieben. Heute wohnt er in L’Auberson, demselben Dorf wie André Margot. Es liegt einen Kilometer hinter Sainte-Croix und einen Kilometer hinter der Grenze zu Frankreich. Die beiden Männer haben gemeinsame Bekannte und duzen sich. Aber der eine kam durch die Welt und wurde berühmt. Der andere blieb im Winkel.
Man merkt es seinem Sprachgebrauch an. Er ist charakteristisch für die einfachen Leute dieser Gegend. Sie drücken sich kurz und bescheiden aus. Lange Sätze und detaillierte Ausführungen werden als Wichtigtuerei und Selbstverliebtheit ausgelegt. „Er hört sich gerne reden“, sagen die Leute über einen kommunikationsfreudigen Menschen, unbesehen davon, wie gehaltvoll seine Äusserungen sind. In den Bergen gilt: Man tut sich nicht hervor. Mach dich nicht wichtig. Es gibt noch andere als dich.
So liefert André Margot jetzt keine langen, zusammenhängenden Voten, sondern eine Anhäufung von Einzelbemerkungen. Sie sind durchsetzt von Interjektionen, mit denen sich der Sprechende vergewissert, dass er sich auf Mittelkurs befindet und vom Einverständnis des Hörers angenommen wird. Commonsense und gemeinsamer Boden sind wichtiger als Exzellenz. Demzufolge äussert sich André Margot nur lapidar über seine Arbeit und seine Welt. Wenn man in engen Verhältnissen Seit’ an Seit’ nebeneinander lebt, kommt es nur gut, wenn man sich verträgt und dem andern seinen Platz gönnt. Das zeigt auch das Porträt des Uhrmachers > Henri-Daniel Piguet aus der benachbarten Vallée de Joux.
Unter diesen Bedingungen erlahmt die Unterhaltung bald. Glücklicherweise kommen dem Film Zwischenschnitte zuhilfe: Mehrere Aufnahmen vom Haus und der tiefverschneiten Gegend und Aufnahmen vom Mechanismus einer Spieldose mit ihren lieblichen Klängen. Dazwischen deutet André Margot an, worin seine Arbeit bestand. Aber er macht das bescheiden, ohne sich hervorzutun oder wichtig zu nehmen.
Der Hörer errät, dass die Spieldosenindustrie in ihrer Blütezeit gleich industriell organisiert war wie das Uhrengewerbe. Beide stützten sich auf ein Netz von spezialisierten Heimarbeitern wie > Angeline Fankhauser. André Margot schliff die Zungen des Metallkamms zu. Andere setzten Bestandteile von Hühnerfedern auf die Spitze der Nadeln, um den Klang runder und weicher zu machen, „so dass es nicht pfeift“. Wieder andere steckten winzige Stäbchen in die perforierten Metallwalzen, deren Drehung die Melodie hervorgeruft. „Zur besten Zeit entstanden fünfzigtausend Musikdosen pro Tag. Wir waren fünfhundert Musikdosenstimmer.“
Das Stimmen hatte André vom Grossvater gelernt, der es seinerseits vom Vater gelernt hatte. Nun beschäftigt er sich nach einem halben Jahrhundert nur noch mit seinen neun Kühen. Auf diese Weise wird ihm mit 66 die Zeit nicht lang. Bis vor zwei Jahren lebte er noch mit den Eltern zusammen. Dann starben sie kurz nacheinander. Die Frau war schon vor 24 Jahren verschieden. Damals war André Margot 42.
Wenn man Seit’ an Seit’ beisammen lebt, kennt man einander und braucht nicht mehr viele Worte. Das beschrieb auch der Emmentaler Pfarrer Jeremias Gotthelf im Roman „Wie Anne Bäbi Jowäger haushaltet und wie es ihm mit dem Doktern geht“. Dort liess er einen alten, bescheidenen Bauersmann seine Philosophie des Redens darlegen:
[Übersetzung:] Es ist in einem Haus gerade wie in einem Lied; da muss eins aufs andere hören, wenn es schön gehen soll, und manchmal muss eins behutsam singen, wenn’s die anderen am lautesten machen, und manchmal allein singen und manchmal die andern allein machen lassen. Und wie ein jedes Lied eine eigene Weise hat, so hat sie auch ein jedes Haus, und wie man immer schauen muss, an was für einem Lied man ist, wenn man anfängt zu singen, so muss man auch schauen, auf was für einem Ton es in einem Haus gehe. Und darum geht es so böse, weil so manches in einem jeden Haus auf dem gleichen Ton bleiben will. Es würde auch nicht schön gehen, wenn man ein jedes Lied auf die gleiche Art singen möchte. Aber das kann man nicht einfach angeben, man muss selber das Gehör dafür haben und merken, auf welchem Weg es am besten geht.
[Original:] Es isch im e Hus grad wie im e Lied; da muss eys ufs anger lose, wes schön gah soll, u mängist muss eys süferli singe, we die Angere am lutiste mache, u mängist eleini singe u mängist die Angere eleini la mache. U wie en ieders Lied e eigeni Wys het, su hets o es n ieders Hus, u wie me geng muss luege, a was für eme Lied me ist, we me afat singe, so muss me o luege, us was für eme Ton es im e Hus gang. U darum geyhts sövli bös, wil so mängs im en iedere Hus uf em glyche Ton blybe will. Es ging o nit schön, we me es n ieders Lied uf e glych Weg singe wett. Aber das cha me eym nit brichte, mi muss selber ds Ghör ha derfür u merke, wele Weg es am beste geyht.