Angeline Fankhauser: Ein Engagement für die Würde.

25. Juli 1936 –

 

Aufgenommen am 14. Januar 2013 in Oberwil.

Angeline Fankhauser – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Die Mutter war Wäscherin. Sommers arbeitete sie im Freien, winters in der Küche. Da stand ein riesiger, dampfender Bottich. „Es roch immer gut nach Seife“, erinnert sich Angeline Fankhauser. Der Vater arbeitete als Küher auf dem Hof des Gemeindepräsidenten. Als er einmal ein ungesichertes Stromkabel berührte, warf ihn der Schlag aus dem Leben. „Selber schuld“, sagten der Hofbesitzer und der Arzt. Die neunjährige Angeline aber fand das ungerecht. Später wurde Gerechtigkeit ihr Thema fürs Leben. <

 

Die Witwe kam mit ihren beiden Töchtern in die Armenpflege. „Oh, das gab man uns zu spüren!“, erzählt die spätere sozialdemokratische Nationalrätin. La Rippe, eine Bauerngemeinde über Nyon am Genfersee, hatte damals 300 Einwohner (heute 1200). In der Schule mussten die Mädchen immer wieder vernehmen, dass sie auf Kosten der Allgemeinheit lebten. Die Kameradinnen stiessen sich an ihren Kleidern, die von der Mutter in einwandfreiem, sauberem Zustand gehalten wurden. Die handgestrickten Strümpfe wiesen schöne Muster auf. Man sah den Töchtern die arme Herkunft nicht an. Doch diese Haltung wurde ihnen als Überheblichkeit ausgelegt.

 

Verschärft wurde die Ächtung durch die Tatsache, dass Angeline – vermutlich mangels Freundinnen – eine fleissige Leserin war: „Bis zum Ende der Schulzeit habe ich alle Bücher der Gemeindebibliothek gelesen. Die Ausleihe kostet nichts. Für uns war das wichtig.“ So machte Angeline stets die besten Noten, und am Ende des Schuljahrs räumte sie alle Preise ab.

 

„Damals“, erzählt sie, „war die Welt noch streng geregelt. Wer den obersten Rang erreichte, kam ins Lehrerseminar. Die Zweitbesten kamen in die kaufmännische Berufsschule und die Drittbesten in eine handwerkliche Lehre. Die übrigen traten ins Erwerbsleben ein – als ungelernte Arbeitskräfte.“ Eine Skoliose indes drängte Angeline von ihrer Laufbahn ab: „Mit diesem Rücken wirst du keinen Turnunterricht geben können!“, vernahm sie. Deshalb landete sie mit 15 Jahren im Kantonsspital statt im Lehrerseminar. Dort wurde sie in ein Gipskorsett eingeschient.

 

„Gebracht hat die Behandlung nichts“, stellt die 77-Jährige fest. „Dennoch erwies sich das Unglück als Glück. Eine Betreuerin verwies mich an die Ecole Curchod, ein eben eröffnetes Privatinstitut. Dort wurde ich zwischen 16 und 18 Jahren zur Sozialpädagogin ausgebildet. Ich habe für den Umgang mit schwierigen Kindern und Jugendlichen viel gelernt. Auch Durchsetzungs­vermögen. An meiner ersten Stelle waren einige älter als ich.“

 

Weil die Schwester unbedingt Schneiderin werden wollte (das Nähen hatte sie schon als Kind betrieben), war die Familie nach Lausanne gezogen. Hier verdiente die Mutter ihr Einkommen als Putzfrau (elle faisait du ménage). Angeline sparte das Geld für eine Vespa zusammen, um sich leichter an ihre Arbeitsorte verschieben zu können. Deshalb machte sie alle Wege zu Fuss, anstatt das Tram zu benützen.

 

Mit 27 war sie immer noch ledig: „Ich zog die jungen Männer nicht an. Freundinnen sagten, ich sei zu selbstbewusst. Das wirke abschreckend. Doch dann trat ein Zollbeamter an mich heran. Er fand mich offenbar erträglich. Er fragte, ob wir übers Wochenende auf eine Wanderung gehen wollten. Dabei wurde klar, dass nichts einer Heirat im Weg stehe. So einfach ging das damals zu. Einzelne spotteten jedoch: ‚Er ist stärker in deine Vespa verliebt als in dich.‘“

 

Dem Mann wurde als Arbeitsort L’Auberson zugewiesen. Die Dienstwohnung war äusserst primitiv. Sie hatte keine Zentralheizung, keine Waschmaschine: „Es war eine Rückkehr in die Verhältnisse meiner Kindheit.“ Der Anfang war schwierig. Angeline hatte nichts zu tun als zu kochen und auf die Heimkehr des Gatten zu warten. Für die Zollbeamten und ihre Angehörigen war der Kontakt zur Bevölkerung unerwünscht. Deshalb riet ihr die Frau eines Kollegen, bei einem der zahlreichen Spieldosenhersteller der Gegend um Heimarbeit nachzusuchen. Diesem Nebenerwerb gingen alle Zöllnersge­mah­lin­nen nach.

 

Die Zollverwaltung genehmigte das Gesuch. Angeline hatte geltend machen können, der Mann habe eingewilligt, dass sie die inzwischen erkrankte Mutter unterstütze. Jetzt konnte sie beim Fabrikanten vorsprechen. Erfreut schlug er ihr das Spieldosenstimmen vor. „Aber ich habe keine musikalischen Kenntnisse!“, warf die junge Frau ein. „Ach, das ist ganz einfach“, entgegnete der Mann. „Sie sind begabt! Nach ein paar Versuchen werden sie heraus­kriegen, wie man das macht.“ Auf diese Weise trat Angeline Fankhauser neben > André Margot ins Heer der fünfhundert Spieldosenstimmer ein.

 

Sie nahm die Arbeit nach Binningen BL mit, als der Mann eine Stelle als Gemeindepolizist gefunden hatte. Die Familie vergrösserte sich um zwei Töchter. Als aber die Mädchen in den Kindergarten kamen, wurde die Mutter vorgeladen: „Sie müssen mit den Kindern unbedingt Baseldeutsch reden. Sonst können sie sich nicht integrieren.“

 

Angeline Fankhauser warf das Steuer augenblicklich herum. Sie las nur noch deutsche Zeitungen. Sie schaffte einen Fernseher an und schaute das Deutschschweizer Programm. Über das Aufgenommene dachte sie beim Schleifen der Spieldosenkämme nach. „Fliessbandarbeit ist für die Frauen kein Unglück“, erklärte damals die einzige Arbeitspsychologin der Schweiz, Dr. Gisela Kalderach. Sie hatte an der Universität Hamburg studiert und danach eine Stelle bei der Weberei Gugelmann Roggwil gefunden: „Frauen schätzen es, bei der Fliessbandarbeit ihren Gedanken nachgehen zu können.“

 

Die Gedanken entwickelten sich bei Angeline Fankhauser zu Leserbriefen. Der Mann tippte sie in die Maschine. Sie wurden in der „Basler Zeitung“ gedruckt, und die Verfasserin machte sich einen Namen. An einer Versammlung wagte sie es, aufzustehen und mit ihrem sympathischen französischen Akzent mehr Kinderspielplätze zu verlangen. Diese Interventionen brachten sie auf die Liste der sozialdemokratischen Partei, und 1971 kam sie in den Einwohnerrat (Gemeindelegislative) von Binningen. Fünf Jahre später dazu noch in die Legislative des Kantons Basel Land. Die beiden Mandate behielt sie bis zu ihrer Wahl in den Nationalrat 1983.

 

Inzwischen, meint Angeline Fankhauser, wurde ihrem Gatten von weiblicher Seite suggeriert, er könne mit einer Frau, die nicht ständig abwesend sei und nur Politik im Sinn habe, ein anderes Leben haben: „Als die Töchter aus der Schule kamen, haben wir uns getrennt.“ Im Nationalrat aber wurde Angeline Fankhauser Mitglied der Geschäftsprüfungskommission und Präsidentin der staatspolitischen Kommission. Nach 16 Jahren verliess sie am 5. Dezember 1999 die grosse Kammer.

 

14 Jahre später, am 14. Januar 2013, besucht sie das Team der „Plans Fixes“ in den Lettenreben 15, der Einfamilienhausgegend von Oberwil BL. Die ehemalige Leiterin des Arbeiterhilfswerks ist nun Mitglied der grauen Panther: „Es geht uns darum, dass die alten Menschen nicht bevormundet werden und ihre Lebensweise selbst bestimmen können. In diesem Punkt ist noch gleich viel zu leisten wie für die Frauen vor fünfzig Jahren.“

 

In der Freizeit liebt sie es, Puzzles zusammenzustellen, am liebsten mit der Abbildung berühmter Gemälde, durch die sie den Gedanken ihrer Urheber nahekommt. „Wenn Sie zweitausend Teile auf den Tisch schütten, stehen Sie vor einem Chaos. Aber Sie wissen, dass sich daraus am Ende eine Ordnung ergibt.“ Die Zuversicht, die Angeline Fankhauser beim Entwirren hilft, hat die Welt noch heute nötig.

 

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