1. Januar 1913 – 18. Juni 2003.
Aufgenommen am 8. Juni und am 4. Juli 1988 in Steffisburg.
Dr Michael Stettler – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)
> Zwei verschiedene Drehtage, zwei verschiedene Drehorte. Gerne wüsste man, was die „Plans Fixes“ dazu geführt hat, bei Michael Stettler von der Praxis abzugehen, die Aufnahme in einem Rutsch zu machen, das heisst „ohne Wiederholungen, ohne Schnitte“. Unerwähnt bleibt überhaupt das Wichtigste. Aber für dieses Ungenügen liegt der Grund bei Bertil Gallands Fragetechnik. <
Hätte Bertil Galland 1988 mit der Online-Ausgabe des „Historischen Lexikons der Schweiz“ rechnen können (von Wikipedia nicht zu reden), dann hätte er das Gespräch ganz anders geführt. Jetzt aber – und „jetzt“ bedeutet den 8. Juni und den 14. Juli – fragt er den 75-jährigen Michael Stettler lauter Dinge, auf welche das Netz genauere, konzisere und umfassendere Antworten gibt. Und das, worüber der Patrizier exklusive Auskünfte liefern könnte, bleibt unerwähnt: Wie ist er aufgewachsen? Wie waren die Eltern? Die Freunde? Die Lieblingsbetätigungen in Kindheit und Jugend?
Bertil Galland sucht nicht die Tiefe. Er begnügt sich, Namen anzutippen: „Haben Sie den und den gekannt?“ Die Abwesenden ziehen ihn stärker an als Michael Stettler, der vor ihm sitzt: „Welche weiteren Persönlichkeiten sind Ihnen begegnet? Können Sie sie aufzählen?“ Der Abgefilmte nickt und holt gutwillig aus. Doch Galland bremst ihn ab: So genau will er es nicht wissen. Ihm genügen ein paar Stichworte. Auf die Schulsituation übertragen könnte man sagen: Der Befrager betreibt nicht ein Rigorosum, sondern Aufgabenkontrolle. Ob der Prüfling zu eigenen Gedanken fähig ist, interessiert ihn nicht. Deshalb bleiben bei der Aufnahme die Hauptsachen unausgesprochen. Das führt immer wieder zu frustrierenden Momenten. Etwa wenn Stettler beginnt, die bernische Eigenart zu schildern, und Galland ihn unterbricht, um das Thema zu wechseln.
Michael Stettler gehört zur Sorte der leutseligen Burger. Das sind Angehörige des Berner Patriziats, die zwar wissen, dass sie etwas Besonderes sind (Volksmund: Mehrbessere), aber dazu erzogen wurden, „die Minderen“ diese Divergenz nicht spüren zu lassen. Deshalb reagiert der hochwohllöbliche Mann auf seinem Landsitz (Campagne) in Steffisburg auf jede Intervention des Befragers mit einem Nicken. Dann erst hebt er mit gutartiger Beflissenheit seine Antwort an.
Der Brockhaus von 1839 definierte:
Ein dem alten römischen Patriziat sehr entsprechendes Institut entstand im 12. und 13. Jahrhundert in den deutschen Reichsstädten. Auch diese Patrizier waren eine Geburts- und Geldaristokratie, welche sich ein ausschliessliches Recht auf alle höhern städtischen Ämter anmasste. Der den Patrizierfamilien oft vorgeworfene Patrizierstolz hat erst in der neuesten Zeit, aber nicht überall, aufgehört.
Noch heute ist die „Grande Société“ mit ihren noblen Räumen im ersten Stock des ehemaligen „Hôtel de Musique“ am Theaterplatz nur offen für die Angehörigen des Patriziats sowie die amtierenden Botschafter in Bern. 1988, im Entstehungsjahr des Porträts von Michael Stettler, hielt das Komitee des „Cercle“ fest, aufgenommen würden die Vertreter „der historischen Familien Berns und der übrigen Schweiz“. Vertreter anderer Familien indes würden „grundsätzlich nicht aufgenommen“.
Zu den „historischen Familien Berns“ und damit zur „Grande Société“ gehört das Geschlecht der Stettler. Das „Historische Lexikon der Schweiz“ hält fest:
Stettler: Bis Anfang des 21. Jahrhunderts blühendes Berner Patriziergeschlecht mit Stubenrecht in der Gesellschaft zu Ober-Gerwern. Schon seit 1325 werden verschiedene Träger des Namens Stettler als Mitglieder des Berner Rats erwähnt, doch lässt sich erst Wilhelm, der 1541 in den Berner Grossen Rat gelangte, als Stammvater nachweisen. Obwohl die Stettler dank ihrer starken Verzweigung ihre Präsenz im Grossen Rat stetig ausbauten, blieben sie bis ins 17. Jahrhundert im Handwerk verankert, zuerst als Gerber, später unter anderem auch als Glaser. Allmählich etablierten sie sich mit Anton und dem Chronisten Michael in wichtigen Schreiberpositionen. Aus diesem Milieu entsprang der Kunstmaler Wilhelm. Vier Grossräte gelangten in den Kleinen Rat, in dem Johann Rudolf (1696-1757) zum Venner und sein Sohn Rudolf zum Deutschseckelmeister [= Finanzminister der Republik] aufstiegen. Der 1831 von der Politik zurückgetretene Karl Ludwig trat als Historiker hervor, während Albrecht Friedrich als liberalster Berner Patrizier galt. Ab ca. 1700 engagierten sich die Stettler auch im Solddienst, in dem Rudolf zum Brigadier avancierte. 1716 erhob Kaiser Karl VI. die Familie in den Reichsritterstand. Mit dem Rückzug aus der Politik und dem Wegfall der fremden Dienste schlugen im 19. und 20. Jahrhundert viele Söhne akademische Laufbahnen ein. Neben Juristen, Ingenieuren, Ärzten und – die Tradition aus dem Ancien Régime fortsetzend – mehreren Pfarrern brachten die Stettler unter anderem mit Eduard, dessen Sohn Eugen und Eugens Enkel Michael eine Architektendynastie hervor, aus der auch die Künstlerin Martha stammte.
Schade, hat Bertil Galland nicht mit der Online-Ausgabe des „Historischen Lexikons der Schweiz“ gerechnet. Dann hätte er Michael Stettler nicht um Informationen über die Familie zu bitten brauchen. Denn ausführlicher und präziser als das Nachschlagewerk kann man sich in einem Gespräch, das improvisierten Charakter aufweisen soll, nicht äussern. Wenigstens tritt im Film hervor, dass man einander in den bernburgerlichen Familien kennt, und zwar nicht nur in der Synchronizität (im Heute), sondern auch in der Diachronizität (im Gestern und Vorgestern). Damit wird der einzelne von seiner Herkunft geprägt und lebt auf einem Sockel, der ihn aus dem zermalmenden Geschiebe der Zeit heraushebt und bestätigt, dass er zusammen mit den übrigen Mitgliedern seiner Familie eine unauslöschliche Position hat in saecula saeculorum.
Zusätzlich nobilitiert wird Michael Stettler dadurch, dass er es auch selbst ins „Historische Lexikon der Schweiz“ gebracht hat:
Architekturstudium an der ETH Zürich, 1940 Promotion. Assistent am Kunstmuseum Bern, ab 1942 Inventarisator der "Kunstdenkmäler des Kantons Aargau" (Bd. 1, 1948, Mitautor von Bd. 2, 1953). 1948-1961 Direktor und Erneuerer des Historischen Museums Bern. 1961-1977 Gründungsdirektor der Abegg-Stiftung in Riggisberg. 1948-1965 Präsident der Gottfried-Keller-Stiftung, 1965-1970 Stiftungsrat der Pro Helvetia. Michael Stettler publizierte zahlreiche Beiträge zu Kunst und Architektur. Daneben verfasste er Gedichte, literarische Porträts und autobiografische Aufzeichnungen. 1953 Literaturpreis der Stadt Bern, 1964 jener des Kantons Bern, 1973 bzw. 1979 Ehrendoktorate der Universität Freiburg und Bern, 1993 Ehrenbürger von Steffisburg.
Der Herrensitz, in dem die Aufnahme für die „Plans Fixes“ erfolgt, kommt elf Jahre nach Michael Stettlers Tod, am 1. Juni 2014, in die deutschsprachige Wikipedia:
Die Campagne Ortbühl ist ein 1794 bis 1796 gebauter Landsitz in der Gemeinde Steffisburg im Kanton Bern.
Carl Ahasver von Sinner erweiterte ab 1794 im Auftrag von Gottlieb Emanuel Wagner ein bestehendes Herrenhaus zur Campagne. Im 20. Jahrhundert bewohnte der Berner Architekt, Kunsthistoriker und Schriftsteller Michael Stettler das Ortbühl.
Auf dem Foto aus dem Wikipedia-Eintrag vom Juni 2014 sieht man das Geländer, an dem im Sommer 1988 Michael Stettler mit seiner Frau Barbara, geb. von Albertini, am Ende der „Plans Fixes“ ins Gesichtsfeld der Kamera tritt. Aus heutiger Sicht erscheint Frau Stettler „heran-schwebend, schwimmend, wie ein schöner Zierfisch gegen die Glaswand eines Aquariums herankommt. Ja, sie sah stumm aus, und einsam.“ (Heimito von Doderer.)