18. September 1944 – 22. August 2021.
Aufgenommen am 20. Juni 2012 in Lausanne.
Jean-Pierre Fragnière – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)
> Für die „Plans Fixes“ hat Jean-Pierre Fragnière die Uhr abgenommen. Sie liegt in seiner Rechten. Ab und zu tritt das Metalband in Erscheinung. Es ist, als wolle der Sozialwissenschafter vor der Kamera die Zeit beiseiteschieben. Der Tod soll ihn nicht bedrängen: „Ich habe schon zweieinhalbmal Krebs gehabt. Der zweite gehörte zur Sorte, an der mein Vater gestorben ist.“ Jean-Pierre Fragnière aber wird nach der Aufnahme noch neun Jahre weiterleben. <
Der 74-jährige, aus dem Wallis stammende Bernard Crettaz, promovierter Soziologe, führt mit seinem 67-jährigen Landsmann und Kollegen ein grosses, ruhiges, leuchtendes Gespräch. Leicht vorgebeugt sitzt Jean-Pierre Fragnière auf einem einfachen, etwas knarrenden Holzfauteuil. Seine Hände formen eine Geste, die gleichzeitig Präzision und Schutz gibt. Als sogenannte Merkel-Raute ist sie durch die 16 Regierungsjahre der deutschen Bundeskanzlerin weitherum bekannt geworden. Jetzt beschreibt der Sozialwissenschafter sein Leben im Stil altrömischer Klassizität und vereint Kürze mit Genauigkeit, oder, auf Lateinisch, „brevitas“ mit „veritas“.
„Ich kam 1944 in Veysonnaz zur Welt“, beginnt Jean-Pierre Fragnière. „Im Wallis schuf der Krieg enge Verhältnisse. Veysonnaz aber war die ärmste Gemeinde des Kantons. Hier konnten die Menschen nur überleben, wenn sie einander beistanden. Also ging mir in Fleisch und Blut über, was tätige Solidarität heisst.“
Vater und Mutter amteten beide als Lehrer. Das bedeutete sechs Monate Arbeit pro Jahr. Die lange schulfreie Zeit diente im Wallis dazu, dass die Kinder den Eltern helfen konnten. Die Lehrer mussten sich derweil nach einem Zusatzerwerb umschauen. > Marie Métraillers Vater erzielte im Sommer ein Einkommen als Hirt auf den Savoyer Alpen.
Jean-Pierre Fragnières Vater betrieb eine kleine Schreinerei. „Ich erinnere mich noch an seine Beratungen mit der Mutter: ‚Kann ich denen diese Rechnung schicken?‘ Es ging um Summen von zwei Franken fünfzig. Aber der Betrag konnte die Kunden in Verlegenheit bringen. Darum musste man auf die Umstände der Mitmenschen Rücksicht nehmen. Das lernte ich von klein auf.“
Als der Vater an Tuberkulose erkrankte, erfuhren Jean-Pierre und seine Familie die Rücksicht der andern an sich. Aber die Situation wurde mit der Zeit ambivalent: „Zuerst war ich das Kind des Kranken. Später das kranke Kind. Man begann, einen Bogen um mich zu machen.“ Umso fleissiger lernte der Junge für die Schule: „Ich war sehr gut“, sagt der emeritierte Professor. „Deshalb war klar, dass mir die geistliche Laufbahn bestimmt war.“
Nach der obligatorischen Schulzeit (sie dauerte im Wallis damals bloss vier Jahre) kam der Zehnjährige nach Estavayer-le-Lac ins katholische Internat Centre de Formation du Sacré-Coeur. Dort machte er die Matur. Für den jungen Mann bedeuteten Armut und Ehelosigkeit hohe Ideale. Dreimal erneuerte er das Glaubensgelübde: Mit 16, mit 20 und mit 24. An der Universität Freiburg i. Ü. studierte er Theologie. Liess sich zum Priester weihen. Und zwei Jahre später schrieb er den Kündigungsbrief. Er gab Kirche und Glauben auf.
Es ging ihm ähnlich wie dem Historiker > Jean-Pierre Jelmini. Der legte nach Glaubenszweifeln eines Morgens im Kloster Einsiedeln die Soutane aufs Bett und kehrte nach Hause zurück. Demgegenüber unterstreicht Jean-Pierre Fragnière die Banalität seines Auslösers: „Ich war einfach nicht mehr willens, ohne Lohn junge Menschen zu unterrichten, die fünfhundert Franken Taschengeld bekamen – pro Woche!“
Das war 1971. Damals hatte die Kirche schon aufgehört, den Weg des zweiten vatikanischen Konzils zu verfolgen, und Jean-Pierre Fragnière fühlte sich frei, die weltliche – und das heisst in seinem Fall: die wissenschaftliche Laufbahn fortzusetzen. Bereits hatte er an der Universität Freiburg i. Ü ein Lizenziat in Theologie erworben, dazu an der Universität Lausanne ein Lizenziat in Soziologie und an der Universität Genf ein Doktorat in Gesellschafts- und Erziehungswissenschaften.
Jetzt brachte ihn ein grosszügig ausgestattetes Stipendium zu Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, den berühmten Exponenten der Frankfurter Schule. Vier Jahre später stand dem strebsamen Dreissiger an jeder beliebigen Universität der Weg zu Professorenstuhl und Institutsleitung offen.
Doch da erfuhr die Karriere, ohne äusseren Anlass, wieder einen Knick. Jean-Pierre Fragnière war, könnte man sagen, halt schon zu alt. Nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch war der kritische Geist (l’esprit critique) in ihm erwacht, vor dem Roland Donzé in den 1970er Jahren seine Erstsemestrigen zu warnen pflegte: „Sie müssen wissen, dass Studieren ein Beruf ist. Nicht anders als jeder Lehrling müssen Sie acht Stunden pro Tag arbeiten, damit Sie das Studium hinter sich bringen, bevor ,l’esprit critique‘ erwacht.“ Am Anfang, führte er aus, sei einem jeder Professor haushoch überlegen; man anerkenne seine Autorität und glaube ihm jedes Wort. Da falle es leicht, das Verlangte zu leisten. Später jedoch beginne man zu vergleichen und zu zweifeln. Man verlange Begründungen und habe zuweilen den Eindruck, der Professor könne sie einem nicht geben. Da werde einem die Arbeit zuwider. Darum sei es gut, die Universität zu verlassen, bevor ,l’esprit critique‘ erwache.
Jean-Pierre Fragnière verliess die Universität und wandte sich dem Leben zu. Non scholae, sed vitae discimus. Für die kommenden Jahre zählte für ihn die konkrete Aktion. Sie war ebenso spannend und geistig ebenso bereichernd wie die wissenschaftliche Erkenntnis. Am Ende aber führte Weg zur Synthese: Vereinigung von Wissen und Handeln. Der von der damaligen Soziologie belächelte, ja bemitleidete Ansatz, die Verbesserung der Lebensumstände bei den einfachen Menschen ins Auge zu fassen, löste einen immensen Arbeitschub aus: „Wir wissen über dieses Feld so gut wie nichts. Wir müssen anfangen, Daten zu erheben!“
Jean-Pierre Fragnière übernahm eine Professur an der Universität Genf und gründete in Sitten das Institut universitaire âges et générations. Die Initiative kam zur richtigen Zeit. Viele Kollegen dachten wie er. Konkurrenz und Neid, die Dämonen der Wissenschaft, wichen dem friedlichen Geist der Zusammenarbeit. „Wir waren Avantgardisten“, erklärt der Emeritus. „Wir beschäftigten uns schon vor zwanzig Jahren [heute dreissig] mit Sterben und Tod, der Armut, der Migration, der Freiwilligenarbeit und dem Zusammenleben der Generationen. Wir wollten der Praxis wissenschaftlich begründete Anleitungen zur Verfügung stellen.“
Die französischsprachige Wikipedia schliesst ihren Artikel über Jean-Pierre Fragnière mit der redaktionellen Feststellung: „Diese Bibliografie enthält zu viele Werke“ (Cette bibliographie recense trop d’ouvrages). In der Tat, die Liste ist fast endlos:
- Claude Pahud, Éd. Socialinfo, Lausanne, 2021.
- Aux sources de l’action sociale. Dans le pays de Vaud et ailleurs, Éd. Socialinfo, Lausanne, 2021.
- Mon cher / Mein Lieber, Éd. Socialinfo, Lausanne, 2021 – avec Katharina Ley.
- Les solidarités dans la société de longue vie, Éd. Socialinfo, Lausanne, 2020.
- L’entrée dans la vieillesse. 30 questions, Éd. Socialinfo, Lausanne, 2020.
- De corps et d’esprit. Avec Nicolas Duruz, Éd. Socialinfo, Lausanne, 2020.
- Ouvre tes volets ! Citations du matin, Éd. Socialinfo, Lausanne, 2020.
- Accueillir le changement. 50 ans de défis et de projets, Éd. Socialinfo, Lausanne, 2020.
- Entrer dans la société de longue vie (Ed.), Éd. Socialinfo, Lausanne, 2019.
- Faire ce qu’on promet. Avec Stéphane Rossini, Éd. Socialinfo, Lausanne, 2019.
- La retraite. Quels projets de vie ?, Éd. Socialinfo, Lausanne, 2019.
- Agir et penser. Avec Anne-Nelly Perret-Clermont, É Socialinfo, Lausanne, 2019.
- Propos de démographe. Avec Hermann-Michel Hagmann, Éd. Socialinfo, Lausanne, 2019.
- Générations solidaires, Éd. Socialinfo, Lausanne, 2018 – avec Philippe Gnaegi.
- Habiter dans la société de longue vie. Le projet ADRET à Lancy, Éd. Socialinfo, Lausanne, 2018 – avec Claude Dupanloup.
- Oser la solidarité', Éd. Socialinfo, Lausanne, 2018.
- Oser le dire. Présence de Gérard Delaloye (Ed.), Éd. Socialinfo, Lausanne, 2017.
- Oser la mort, Éd. Socialinfo, Lausanne, 2017 – avec Bernard Crettaz.
- Une politique des âges et des générations, Éd. À la carte, Sierre, 2013.
- Retraites actives et solidaires en Valais. Aktive und solidarische Rentner im Wallis(avec Jean-Pierre Salamin), Éd. À la carte, Sierre, 2013.
- Dictionnaire des âges et des générations, Réalités sociales, Lausanne, 2012.
- Les retraites. Des projets de vie, Réalités sociales, Lausanne, 2011.
- Solidarités entre les générations, Réalités sociales, Lausanne, 2010.
- Le furet, répertoire internet de la politique et de l’action sociales en Suisse, Réalités sociales, Lausanne, 2005.
- Entre science et action, La démographie au service de la cité(avec Maurice Nanchen), Réalités sociales, Lausanne, 2004.
- Les relations entre les générations. Petit glossaire, Réalités Sociales, Lausanne, 2004.
- L'avenir(avec Stefano Cavalli), (Éds), Réalités Sociales, Lausanne, 2003.
- Dictionnaire suisse de politique sociale, Girod R., (Éds), Nouvelle édition revue et augmentée, Réalités Sociales, Lausanne, 2002.
- Le système des trois piliers a-t-il un avenir ?(avec Carigiet E.), Réalités Sociales, Lausanne, 2001.
- Politiques sociales pour le XXIe siècle, Réalités Sociales, Lausanne, 2001.
- Pour les retraités. Joies et responsabilités, Réalités Sociales, Lausanne, 2001.
- La vérité est multiple. Essais de sociologie(avec Y. Fricker et J. Kellerhals, Réalités Sociales, Lausanne, 2000.
- Politiques familiales, l'impasse ?, (avec B. Despland) Lausanne, Éditions EESP, 1999.
- Dictionnaire suisse de politique sociale, (avec R. Girod), Réalités sociales, Lausanne, 1998.
- Politiques sociales en Suisse, Enjeux et débats, Réalités sociales, Lausanne, 1998.
- Bewegt ins Alter, (avec la collaboration de D. Puenzieux, Ph. Badan et S. Meyer), Seismo, Zurich, 1997.
- Maintien à domicile, le temps de l'affirmation, (avec H. M. Hagmann), Réalités sociales, Lausanne, 1997.
- Retraités en action. L'engagement social des groupements de retraités, (avec la collaboration de D. Puenzieux, Ph. Badan et S. Meyer), Réalités sociales, Lausanne, 1996.
- La sécurité sociale en Europe et en Suisse(avec P.-Y. Greber), Réalités sociales, Lausanne, 1996.
- Asi se escribe una monografia, Buenos Aires,
- Repenser la sécurité sociale, éd. Réalités sociales, Lausanne, 1995.
- Familles et sécurité sociale, éd. EESP, Lausanne, 1994.
- Wegleitung durch die Institutionen der sozialen Sicherheit in der Schweiz, Haupt, Berne, 1993.
- Échec scolaire et illettrisme(avec A. Compagnon, éds), éd. EESP, Lausanne, 1992.
- Pratiques des solidarités, (avec P. de Laubier et J. Kellerhals), éd. Réalités sociales, Lausanne, 1991.
- L'étude de la politique sociale, éd. EESP, Lausanne, 1990.
- Le temps des bénévoles(avec P. Mermoud), éd. du CFPS, Sion, 1989.
- Manuel de l'action sociale en Suisse, (Avec M. Fehlmann, Ch. Häfeli, A. Wagner), éd. Réalités sociales, Lausanne, 1989.
- La boîte à outils, un guide pour le temps des études, éd. EESP, Lausanne, 1989.
- Sécurité sociale en Suisse, Une introduction(avec Gioia Christen), Réalités sociales, Lausanne, 1988.
- L'action sociale demain, Réalités sociales, Lausanne, 1988.
- Wie schreibt man eine Diplomarbeit ?, Haupt, Berne, 1988.
- Dix ans de politique sociale en Suisse, Réalités sociales, Lausanne, 1986.
- Comment réussir un mémoire, Dunod, Paris, 1986.
- Les défis de la santé III, Pratiques et innovations(éd.), Réalités sociales, Lausanne, 1985.
- Comment faire un mémoire ?Réalités sociales, Lausanne, 1985.
- Maîtriser la division du travail dans les professions sociales et les professions de la santé, Réalités sociales, Lausanne, 1984.
- Assister, éduquer et soigner, (avec M. Vuille), Réalités sociales, Lausanne, 1982.
- Un autre travail social, (avec B. Bridel e.a.), éd. Delta, Vevey, 1981.
- Droit et politique sociale, (avec P. de Laubier, éd.), éd. Delta, Vevey, 1980.
- Santé et politique sociale, (avec P. Gilliand, éd.), éd. Delta, Vevey, 1980.
- Les ergothérapeutes, problèmes des professions paramédicales, (avec M. Dubochet), éd. Delta, Vevey, 1979.
- Le pouvoir dans la ville, préface de J.-W. Lapierre, (avec M. Bassand), éd. Delta, Vevey, 1978.
- Les ambiguïtés de la démocratie locale, préface de Tom Bottomore, (avec M. Bassand), éd. Georgi, St-Saphorin, 1976.
Ars longa, vita brevis. Die Kunst ist lang, und kurz ist unser Leben. Wie sagte der weise Seneca mit altrömischer Ironie?
Wir lernen nicht fürs Leben, sondern für die Schule.
Non vitae, sed scholae discimus.