23. Dezember 1925 – 11. September 2013.
Aufgenommen am 13. Dezember 1990 in Rolle.
Albert Jacquard – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)
> Ein Autounfall bei einem Familienausflug hat Albert Jacquard fürs Leben gezeichnet. Der Neunjährige verlor den jüngsten Bruder und die beiden Grosseltern väterlicherseits. Er selber blieb im Gesicht versehrt (défiguré). Das Unglück brachte ihn dazu, etwas aus sich zu machen, und zwar so, wie er war. Nun kann der 65-jährige Professor mehrerer Universitäten und vierfache Ehrendoktor sagen: „Schaut mich nur an!“, während ihn die Kamera der „Plans fixes“ mit seiner Botschaft der Nachwelt weitergibt. <
„Wie kam es, dass ich aufwuchs, ohne jemals von Marie Métrailler gehört zu haben?“, fragte Katharina Feitknecht vor vier Jahren in ihrem Kommentar zur > Weberin von Evolène. Nun, das Walliser Dorf liegt auf 1371 m über Meer im Val d’Hérence so weit vom Rest der Schweiz abgelegen, dass Italien näher ist als Sitten. Verwunderlicher ist die Tatsache, dass man aufwachsen konnte, ohne jemals von Albert Jacquard gehört zu haben. Immerhin hat der Mann zwischen 1973 und 1992 an der Universität Genf unterrichtet, nachdem er 1970 im Alter von 45 Jahren einen Doktor in Genetik errungen hatte und zwei Jahre später, 1972, einen Doktor in Biologie.
1948 hatte er bereits an der „École Polytechnique“ ein Diplom als „Ingénieur des manufactures de l’État“ und am „Institut de statistiques“ ein Diplom als „Ingénieur d’organisation et méthodes“ erworben und sich danach in den höchsten Ämtern des französischen Staatsdiensts ausgezeichnet. Präsident Giscard d’Estaing verlieh ihm 1980 den Grad eines „Officier de la Légion d’honneur“, und François Hollande 2012 die Auszeichnung eines „Grand officier de l’ordre national du Mérite“.
In der Öffentlichkeit wurde Albert Jacquard bekannt durch regelmässige Beiträge in „Le Monde diplomatique“, durch eine tägliche Radiochronik auf France Culture im Alter zwischen 66 und 75 Jahren, durch unzählige populärwissenschaftliche Vorträge und durch 18 bis heute lieferbare Taschenbücher.
Die Weite seines Tätigkeitsfelds fasst Wikipedia durch die Begriffe „Essayist, Biologe, Genetiker, Philosoph“ zusammen. Und hier liegt eine mögliche Erklärung für die Frage, warum man aufwachsen konnte, ohne jemals von Albert Jacquard gehört zu haben: Der Mann ist zu brilliant.
In einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ beschreibt heute die 89-jährige französische Soziologin Dominique Schnapper den „demokratischen Hass“, der sich am Beispiel Macron entlädt:
Woher kommt diese starke Ablehnung der Person des Präsidenten?
Reformen wie die Rentenreform haben viele Franzosen sehr aufgebracht. Die Erklärung allein durch Politik scheint jedoch unzureichend zu sein. Es ist wahr, dass die Konzentration der Macht auch die Konzentration von Kritik und Empörung zur Folge hat. Bekanntlich überträgt die Fünfte Republik den Grossteil der Macht einem republikanischen Monarchen, der vom Volk gewählt wird. Der Hass auf Macron geht jedoch darüber hinaus. Er ist das Opfer dessen, was ich als „demokratischen Hass“ bezeichnet habe. Die demokratische Gesellschaft, in der alle Ämter formal für alle offen sind, weckt Hoffnungen und Ambitionen. Dementsprechend vermehrt sie auf allen Ebenen die Zahl der Enttäuschten und Gedemütigten. Indem sie Chancengleichheit und republikanische Meritokratie proklamiert, enttäuscht sie unweigerlich diejenigen, die keinen Erfolg haben, und nährt ihr Gefühl sozialer Ungerechtigkeit und ihre Ressentiments.
Allerdings scheint Macron stärkere Emotionen hervorzurufen als seine Vorgänger. Weshalb?
Hierarchien, Kompetenzen und Institutionen werden immer weniger anerkannt. In der Welt der Gleichheitsleidenschaft ist der aktuelle Präsident nicht mehr nur derjenige, der die Macht auf sich konzentriert und als solcher die Kritik auf sich zieht wie die früheren Präsidenten der Republik. Er ist derjenige, der sich radikal von der egalitären Leidenschaft absetzt. Es wird als skandalös empfunden, dass er jung und talentiert ist. Menschen fühlen sich durch ihn herabgesetzt, er wird als abgehoben und arrogant wahrgenommen.
Im Gegensatz zum 46-jährigen Emmanuel Macron, der auf viele kalt und technokratisch wirkt, vertritt der 65-jährige Albert Jacquard die grossen humanistischen Themen. Er ruft auf zum Kampf gegen Armut und Benachteiligung. Er plädiert für eine Erziehung zu Freiheit und Solidarität. Er macht auf die Widersprüche aufmerksam, die beim einzelnen und in der Gesellschaft zutage treten.
Im Gespräch mit den „Plans fixes“ münden seine Ausführungen in die Erkenntnis: „Der Planet ist verloren. Du musst dein Leben ändern. Wenn du heute wegblickst und weitermachst wie bisher, bist du ein Sauhund (un salaud).“
Wer will sich das sagen lassen! Zumal von einem Mann, der besser reden kann als unsereiner! Albert Jacquard drückt zwar seine Überlegenheit nicht durch Fanfarentöne und Selbstbeweihräucherung aus wie ein früherer Präsident der USA, sondern durch brillantes Differenzierungsvermögen und elegante Formulierungen. Aber auf einfache Gemüter wirkt seine Botschaft gleichwohl provokant.
Von „décroissance soutenable“ (degrowth, freiwilliger Verzicht, Entwachstum) wollen die Leute nichts mehr hören. Dieser Tage meldet die „Süddeutsche Zeitung“, neunzig Prozent der Deutschen seien nicht bereit, irgend etwas zugunsten der Umwelt aufzugeben. Und die Zahl ist schwach. Eine Umfrage in den Flughäfen der Welt käme auf hundert Prozent.