28. August 1953 –
Aufgenommen am 22. Dezember 2023 in Sitten.
Madeleine Gay – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)
> „Einsamkeit ist das Los aller hervorragenden Geister.“ Zu dieser Beobachtung des Philosophen Arthur Schopenhauer kann Madeleine Gay ein Lied singen. Die Önologin werkelte ohne Unterstützung 16 Jahre lang in einer Garage auf dem Firmengelände der Walliser Weinkellerei Provins mit alten Rebsorten vor sich hin, und als sie mit ihren Versuchen internationale Anerkennung gewann, erfuhr sie als erstes die Wahrheit von Markus 6,4: „Jesus aber sprach zu ihnen: Ein Prophet gilt nirgend weniger als in seinem Vaterland und bei seinen Verwandten und in seinem Hause.“ <
Spontanität und Ehrlichkeit sind Madeleine Gays Hauptzüge. Sie erklären, warum die Unterhaltung mit ihr von der ersten bis zur letzten Minute Spannung hat. Das ist selbst bei den „Plans Fixes“ nicht die Regel, obwohl es nur bedeutende Westschweizer in die Filmsammlung schaffen. Aber manchmal haben die berühmten Leute nur ein Thema. Und wenn das erschöpft ist, erlahmt die Konversation. Andere haben nichts zu sagen, weil sie ihr Leben als Dienst verstanden. Auch wenn sie es weit nach oben brachten, unterzogen sie sich letzten Endes bloss denen, die das Sagen hatten, und führten aus, was von ihnen erwartet wurde, ohne Eigenes dazuzugeben. Sie hatten sich eben zu glattem Nachvollzug zuschleifen lassen, nachdem sie begriffen hatten, dass schulischer, beruflicher, gesellschaftlicher, politischer und wissenschaftlicher Erfolg dem Konformismus zu verdanken ist.
Das ist die These, die > Albert Jacquart in seinem Porträt vertritt. Und der Berner Emeritus für Psychologie Rudolf Groner bestätigt: „Mit unseren Prüfungen sieben wir die originellen Köpfe aus.“ Roland Donzé, der frühere Ordinarius für französische Philologie, erinnert an die Anfänge: „In den 1960er Jahren begannen sich meine Kollegen vor den begabten Studenten zu fürchten. Sie seien arrogant, behaupteten sie, und drängten sie aus der Universität; mit dem Resultat, dass uns nur noch die Mittelmässigen blieben, nicht die Brillanten. Wohin das führte, zeigt uns der Zustand der heutigen Universität. An ihrer Mediokrität sind wir selber schuld.“
Demgegenüber betrat Madeleine Gay schon als Kind den Weg der Eigenständigkeit. Wie es dazu kam? Sie weiss es nicht. Aber sie beginnt, über Florence Grivels Frage nachzudenken: „Am Anfang vertraute ich den Erwachsenen und glaubte ihnen alles. Doch als ich vernahm, dass es den Weihnachtsmann nicht gebe, hehe, merkte ich, dass ich den Grossen nicht trauen könne. Von da an wollte ich immer das Warum hinter den Sachen verstehen.“
Als Schülerin machte sie die kritische Haltung aufsässig. Sie gehörte, noch ohne es zu wissen, zu jenen, „von denen Prägung, Umprägung, Neuprägung herrschender Mentalität ausgeht, auch in kleinen Menschenkreisen. Es sind die, die man meist schon in der Jugend als starke Persönlichkeiten erkennt. Es sind die, mit denen viele Erzieher nicht gerne zu tun haben …“ Der Berner Erziehungsphilosoph Jakob Rudolf Schmid aber stellt sie in den Vordergrund seiner Erziehungslehre. Es gelte, sagt er, den eigenständigen jungen Menschen „so zu fördern, dass er dereinst nicht allein aus Erwerbsinteresse, um sozialer Geltung willen usw. fähig ist, Anstrengung und Überwindung auf sich zu nehmen, sondern immer wieder auch aus objektiver Motivation, also auch, weil er durch sein Tun Werthaftem im Leben Raum verschaffen will“.
Diese Linie nun begann Madeleine Gay zu verfolgen und nahm „Anstrengung und Überwindung auf sich“. Das „Werthafte“, für das sie sich einsetzte, bestand darin, eine höhere Qualität im Sortiment der Walliser Weinbaugenossenschaft Provins anzustreben. „Es gab nur Fendant und Dôle, Chasselas und Pinot noir“, erklärt die Önologin. „Die Produzenten wurden nach Menge bezahlt, nicht nach Qualität. Im Wallis dachte niemand daran, dass Wein mehr sei als Alkohol; dass man ihn nicht nur trinken, sondern auch geniessen und würdigen könne.“
Zum Glück erkannte ein neuer Direktor, dass die Überlegungen der jungen Önologin in die Zukunft führten. > Marie-Thérèse Chappaz und andere Pioniere hatten schon begonnen, die verkrustete Tradition aufzubrechen. Madeleine Gay nahm an ihren Treffen teil. Ausserhalb des Betriebs legte sie den Mitstrebenden die Resultate ihrer Bemühungen vor, degustierte und diskutierte, nahm Ratschläge und Anregungen entgegen und suchte weiter.
Bei Provins aber bekam Madeleine Gay keine Unterstützung. Nach 16 Jahren ergriff sie, mit Billigung des Direktors, die Flucht nach vorn. An den „Vinalies de Paris“ reichte sie 1997 eine weisse Assemblage ein und gewann mit ihren „Vieilles Vignes“ die Goldmedaille. Das Resultat? Bei der Weinbaugenossenschaft musste der Direktor gehen, und Madeleine Gay stand fortan, von allen angefeindet, allein im Betrieb. – Schopenhauer:
Geistesüberlegenheit jeder Art ist eine sehr isolierende Eigenschaft: sie wird geflohen und gehasst, und als Vorwand hiezu werden ihrem Besitzer allerlei Fehler angedichtet. – Das Gesagte gilt nicht bloss vom Staatsdienst [oder einem Unternehmen], sondern auch von den Ehrenstellen, Würden, ja dem Ruhm in der gelehrten Welt; so dass zum Beispiel in den Akademien die liebe Mediokrität stets obenauf ist, Leute von Verdienst spät oder nie hineinkommen, und so bei allem.
Als Frau von Verdienst erlebte Madeleine Gay indes am Ende der Karriere mit 55 und 60 Jahren, dass sich, von aussen her kommend, die Anerkennung Bahn brach. 2008 und 2013 erhielt sie die Auszeichnung „Schweizer Winzerin des Jahres“. – Liebe Kinder, was lässt sich daraus lernen? „Nöd lugglaa günnt.“ (Nicht nachlassen gewinnt. Zürcher Volksmund.)