François Rochaix: Schauspieler und Regisseur. Das Theater, leidenschaftlich.

2. August 1942 –

 

Aufgenommen am 29. Dezember 2023 in Mies.

François Rochaix – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Die Aufnahme mit dem Theatermann erfolgt spät. Manche seiner Berufsgenossen, die es in die „Plans Fixes“ geschafft haben, waren zwar an Jahren fortgeschrittener als er, doch keiner so bemitleidenswert vom Alter gezeichnet wie der 81-jährige François Rochaix. Die linke untere Gesichts­hälfte ist gelähmt. Mit heiserer Stimme versucht er, die Rudimente einer langen, beeindruckend vielfältigen Theaterlaufbahn zu evozieren, doch verliert er stetsfort den Faden. „Diese Löcher!“, klagt er und wendet sich an den Gesprächspartner: „Patrick, helfen Sie mir!“ <

 

1999, vierundzwanzig Jahre vor der Aufnahme, inszeniert François Rochaix das grösste Festspiel der Westschweiz, das Winzerfest von Vevey (La fête des vignerons). In riesigen Aufmärschen defilieren alle Weinbauberufe, Jahreszeiten und Lebensalter an Zehntausenden von Zuschauern vorbei. 2002, drei Jahre später, wird Rochaix mit der Regie zur schweizerischen Landesausstellung Expo.02 betraut. Die Aufführung erfolgt gleichzeitig in Yverdon, Neuenburg, Murten und Biel. Mit diesen Produktionen betätigt sich der Sechziger in der höchsten Sphäre der Offizialität und schafft an Grossanlässen Staatskunst.

 

Doch Theater ist ephemer. Dem Lemma „François Rochaix“ stellt die französischsprachige Wikipedia den Hinweis voran: „Dieser Artikel zitiert nicht ausreichend seine Quellen.“ Dann folgt der Abschnitt „Biographie“: „Dieser Teil ist leer.“ Der Abschnitt „Schauspiel“ erwähnt sieben von Rochaix’ zahlreichen Inszenierungen. Der Abschnitt „Oper“ dagegen führt keinen der über sechzig Titel an, die der Regisseur realisiert hat: „Dieser Teil ist leer.“ Sic transit gloria mundi.

 

Angefangen hat die Karriere im Garten des Grossvaters, John Marc Rochaix, einem diplomierten Agraringenieur. Das historische Lexikon der Schweiz hält fest: „1902-04 Direktor der Landwirtschaftsschule Pruntrut, 1905-15 Leiter der Landwirtschaftsbehörde des Kt. Genf. 1917-43 radikaler Nationalrat, 1915-18 und 1924-27 Genfer Staatsrat (1917 und 1925 Präs.).“ – In François’ Kindheit war der prominente Bauernvertreter gelähmt. Die Enkel schoben ihn im Rollstuhl durchs Anwesen. Heute leben an der Adresse Vy aux Vergnes 7, 1295 Mies François Rochaix und seine Frau, die Schauspielerin Laurence Montandon.

 

An diesem Ort inszenierte François als Kind zum ersten Mal. „Zirkus“ hiess das Spektakel. Unter anderem brachte der junge Regisseur den Hund dazu, über eine Leiter zu klettern: Auf der einen Seite hinauf, auf der anderen hinab. „Es gab nur einen Zuschauer“, erzählt der 81-jährige Theatermann. „Zum Ärger der Grossmutter schenkte er jedem Mitwirkenden pro Aufführung einen Fünfliber (une tune).“ Die grösste Schweizer Münze war aus Silber und bedeutete „einen erklecklichen Betrag“, erklärt François Rochaix.

 

„Theater war damals meine Leidenschaft“, sagt er. „Daneben auch Skifahren und Klavierspielen.“ In einem der drei Bereiche strebte er als Gymnasiast eine Profikarriere an. Der Sport fiel als erster weg. Ob das Talent für eine Pianistenlaufbahn reichte? Der junge Mann hatte heimliche Zweifel an seinem Talent und ersann darum einen Test: Mit zwei Freunden bereitete er sich während sechs Monaten auf einen Wettbewerb vor. Das Resultat war klar: „Einer war deutlich schwächer.“ Das Theater blieb übrig.

 

Der 19-Jährige rief den Schauspieler Philippe Mentha an, Co-Leiter des Théâtre de Carouge. Er gab freundlich Auskunft und vermittelte den Maturanden an den grossen François Simon. „Sein Unterricht gab die Basis für meinen Stil: Ehrlichkeit. Keine Flunkerei. Alles muss wahr sein.“ Mit 21 begann François Rochaix schon zu inszenieren. „Wir Schauspielschüler wollten unbedingt ‚Warten auf Godot’ realisieren. Einer musste Regie führen.“

 

Die jungen Leute brannten für die Avantgarde und brachten sie nach Genf. François Rochaix: „Ich rief Helene Weigel an, Brechts Frau, die Leiterin des Berliner Ensembles, und fragte sie, ob sie uns ein Mitglied ihrer Truppe, das auch singe, für ein Gastspiel vermitteln könne. Kein Problem, sagte sie, und schickte gleich vier. Da meldete sich die eidgenössische Bundesverwaltung, um die Aufführung zu verbieten: ‚Das sind Kommunisten, die haben bei uns nichts verloren.’ Doch wir hatten vorgesorgt und bei der Genfer Polizeibehörde eine Aufführungsgenehmigung eingeholt. Die hatte wahrscheinlich nicht realisiert, dass das Berliner Ensemble in Ostberlin domiziliert war. Aber das Gastspiel war gerettet.“

 

Aus dem Kontakt mit Manfred Karge und Matthias Langhoff wuchsen lebenslange Freundschaften. Der Einsatz für politisch engagiertes Theater führte unter François Rochaix zu französischen Erstaufführungen von Peter Weiss, Carl Sternheim und Bertolt Brecht. Nach dem Triumph des „gefesselten Prometheus“ von Äschylus zog ihn Hugues Gall, damals Direktor des Grand Théâtre de Genève, in die Opernregie. „Das war ein anderes Feld. Von Anfang an international.“ François Rochaix arbeitete fortan jahrelang an der Oper von Seattle (unter anderem mit dem kompletten „Ring“), am Nationaltheater Oslo, am satirischen Theater Moskau und am Institute for Advanced Theatre Training der Universität Harvard.

 

Daneben leitete er auch Opernproduktionen in Neuenburg, Luzern, Bern und Genf. Während zehn Jahren berichtete ich als Kritiker über seine Arbeit in der Schweiz. „Wie ist er denn?“, fragte Roland Donzé, Philologieprofessor an der Universität Bern. „Am Kirchenfeldgymnasium hatte ihn ihn im Fach Französisch.“ „Gut“, erwiderte ich, „aber nicht überragend“. „So war er auch bei mir.“

 

François Rochaix beeindruckte mich indes mit seiner Menschlichkeit. Wenn wir uns in einer Premierenpause sahen, stimmten unsere Urteile stets überein. Für mich als Kritiker war das ermutigend. Unvergesslich bleibt mir unser Gespräch vom 7. Mai 1989. Im Foyer des Grand Théâtre de Genève tauschten wir uns über Johannes Schaafs Inszenierung von „Fidelio“ aus. François Rochaix’ Gesicht hatte einen bekümmerten Ausdruck. „Das ist so gut“, murmelte er, „dass ich nie mehr werde ‚Fidelio’ machen können.“ – Gross sein ist eins. Die Grösse anderer anerkennen ein anderes.

 

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