Pierre-Bernard Schneider: Psychiater und Psychoanalytiker.

29. September 1916 – 12. April 2005.

 

Aufgenommen am 3. August 1993 in Pully.

Pierre-Bernard Schneider – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Für die Aufnahme mit Prof. Dr. med. Pierre-Bernard Schneider hat Gesprächsleiter Bertil Galland ein vollgeschriebenes Heft auf den Knien. Dort liegen die Resultate seiner Recherchen; man könnte auch sagen: das Material zu einem Eintrag ins biographische Lexikon. Aus ihm zieht er hastig die Themen fürs Gespräch: „Sagen Sie uns etwas zu den Judenverfolgungen in Wien!“ Doch der Psychatrieprofessor wehrt ab: „Dazu kann ich nichts sagen. Das Thema würde anderthalb Stunden beanspruchen.“ Die Eile des Befragers und die Unvereinbarkeit der Perspektiven erklären, warum der Film am Schluss weitgehend aus Überschriften und leeren Zeilen besteht. <

 

Im Haus von Robert Schneider, kaufmännischem Direktor einer Uhrenfabrik in St-Imier, wurde über das Wesentliche nicht gesprochen. Die Schweig­samkeit entsprach der Epoche. Die Väter waren nicht Kameraden, sondern Autoritäten und Vorbilder. Zu ihnen war das Verhalten der Söhne geprägt von „pudeur“ (Schamhaftigkeit, Zurückhaltung). Dieser Hintergrund macht verständlich, warum Robert Schneider nicht aussprach, dass er die Studienwahl des Sohnes billige. Er liess es bloss merken. „Er hätte vermutlich selber gern Medizin studiert. Ich spürte das, wenn ich krank war. Er behandelte mich wie ein Arzt“, erzählt der 77-jährige Psychatrieprofessor.

 

Schweigsam gestaltete sich auch das Verhältnis der Eheleute. Als Pierre-Bernard Schneider während seiner Assistentenzeit in der psychiatrischen Klinik Bellelay arbeitete, wurde zwar die Figur des Direktors Dr. med. Frédéric Humbert für ihn so prägend, dass er das Berufsziel Allgemeinmedizin (möglichst unterschiedliche Patienten aus möglichst unterschiedlichen Milieus mit möglichst unterschiedlichen Gebrechen) aufgab und sich auf Rat des eminenten Kollegen der Psychatrie zuwandte. Im Gespräch für die „Plans Fixes“ aber erwähnt er mit keinem Wort die junge, gewandte Gattin des Klinikleiters.

 

Marie Humbert war ein Gutteil jünger als der Mann. Als er um ihre Hand anhielt, war sie 35 Jahre alt und ledig, er 54 und verwitwet. Aber für Marie Böschenstein (so ihr Name vor der Ehe) spielte der Altersunterschied keine Rolle: „Ich habe mir darüber keine Gedanken gemacht. Von meinem Beruf als Fürsprecher her war ich es gewohnt, mit Männern zusammenzuarbeiten, im Büro, in den Kommissionen, im Gericht. Und da habe ich auch gelernt, den Menschen als Ganzes zu nehmen. Der Doktor Humbert war in jeder Beziehung ein Vorbild. Er hatte eine ganz grosse Persönlichkeit. Er war sehr ritterlich; sehr sensibel; sehr kultiviert. Er hatte eine jugendliche Erscheinung …“

 

Das Paar teilte zusammen die Freude, aber auch die Last der Arbeit. Die meiste Korrespondenz lief über Marie Humberts Pult. Man brauchte ihr die Briefe nicht Wort für Wort zu diktieren, sie war in der Lage, die Schriftstücke aufgrund allgemeiner Anweisungen selbständig zu verfassen. Ab und zu kam Besuch, Regierungsräte, Beamte, Kollegen des Mannes. Bei diesen Gelegenheiten spielte Marie Humbert die Dame des Hauses, nahm an den Konversationen teil und sorgte sich ums Wohl der Gäste.

 

1950 machte das Paar eine Ferienreise ins Tessin. Der Mann hatte die Absicht, sich zur Ruhe zu setzen und dafür im Süden ein Haus zu erstehen. Marie Humbert war dem Vorhaben zuerst skeptisch gegenübergestanden, aber jetzt, auf der Rückfahrt, willigte sie in den Umzug ein. In diesem Moment der Eintracht und der Zukunftsfreude machte ihr Frédéric Humbert eine seiner seltenen Eröffnungen: „Weisst du, ohne dich hätte ich die Arbeit in der Klinik gar nicht durchgehalten.“ Für Marie Humbert bedeutete der Satz eine Liebeserklärung. Er grub sich in ihrem Gedächtnis ein. Eine Woche später erlag der Mann einem Herzinfarkt.

 

Eine ähnliche Zurückhaltung wie das Vorbild Frédéric Humbert zeigt auch Pierre-Bernard Schneider. Er zählt seine Studienorte auf. 1938 war das Wien. Freud lebte noch an der Berggasse 19. Dann marschierte Hitler ein. Auf dem Wiener Heldenplatz meldete er der Weltgeschichte am 15. März den Anschluss Österreichs ans Deutsche Reich. Unverzüglich setzen die Judenverfolgungen ein. „Ich sah, wie die Juden die Trottoirs reinigen mussten“, sagt Pierre-Bernard Schneider. „Erzählen Sie uns davon!“, ruft Bertil Galland. „Das kann ich nicht“, erwidert der Angesprochene. „Das Thema würde anderthalb Stunden beanspruchen.“

 

An der Habsburgergasse wohnte zu dem Zeitpunkt der englische Journalist George Eric Rowe Geyde. Er berichtet:  

 

Als ich einmal die Stiegen meines Wohnhauses hinuntereilte, um Hitlers erste Rede bei seiner Ankunft in Wien zu hören, wurde ich durch Männer aufgehalten, die eben die Leichen eines jungen jüdischen Doktors und seiner Mutter fortschaf­ften. Ich kannte sie als ruhige, anständige und fleissige Hausgenossen, die seit Jahren zwei Stockwerke tiefer gewohnt hatten. Der Mann war über Nacht aus seinem Spital entlassen worden, ohne jede Hoffnung, je wieder einen Verdienst zu finden. Nazi waren in seine Wohnung einge­brochen und hatten eine riesige Hakenkreuzfahne aus dem Fenster gehängt. Da er Arzt war, war es für ihn und seine Mutter leichter gewesen zu entkommen als für andere. Eine Injektion hatte beiden die Erlösung gebracht. Die SS-Truppen, die das Lokal des Sturmkorps im Erdgeschoss übernommen hatten, grinsten voll Genugtuung, als die Leichen vorübergetragen wurden. Von meinem Fenster aus konnte ich beobachten, wie sie jüdische Passanten, meistens Ärzte, Rechtsanwälte oder Kaufleute – sie bevorzugten Ange­hörige der gebildeten Schichten – anhielten und zwangen, in der Wohnung, in der sich die Tragödie abgespielt hatte, den Boden zu bürsten, das Parkett zu wachsen und die Teppiche zu klopfen, während sie die nichtjüdische Hausgehilfin auf einem Sessel sitzend untätig zuschauen liessen.

 

Pierre-Bernard Schneider wurde sieben Jahre später von der Fahrt nach Brüssel, wo eine Seuche wütete, im Auftrag des IKRK umbeordert in den Osten. Soeben hatten die Amerikaner die Konzentrationslager erreicht. Der junge Arzt sollte erste Hilfe leisten. „Erzählen Sie davon!“, ruft Bertil Galland. „Das kann ich nicht“, erwidert der Angesprochene. „Das Thema würde eine Stunde beanspruchen. Sie kennen ja die Bilder. Anorektische Gestalten. Nur Haut und Knochen. Die Hälfte war nicht zu retten. Ihr konnte man nur zu einem guten Tod verhelfen.“

 

Hat man die Greuel nicht gekannt? Hat man von ihnen nicht gewusst? Im Sommer 1942 zitierte die Schweizer Presse trotz Zensur den englischen Premier Churchill, demzufolge schon eine Million Juden umgebracht worden seien.

 

Am 18. Dezember 1942 meldete der Chef der Abteilung für Auswärtiges an die Polizeiabteilung des eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements:

 

Herr Abteilungschef,

 

Wir beehren uns, Ihnen in der Beilage orientierungshalber die Abschrift eines Telegramms zu übermitteln, das die Vertretung des polnischen Judentums in Tel Aviv am 9. d. M. an den Bundespräsidenten gerichtet hat, um ihn zu bitten, der Einreise polnischer Juden keine Schwierigkeiten zu bereiten. Dieses Telegramm, das uns von der Bundeskanzlei zugestellt wurde, wird von uns nicht beantwortet werden.

 

Genehmigen Sie, Herr Abteilungschef, die Versicherung unserer vorzüglichsten Hochachtung.

 

Der Chef der Abteilung für Auswärtiges

sig. Stucki

  

Im gleichen Jahr, schon im September, hatte der Bundesrat von einer Ostschweizer Mädchenklasse Post bekommen:

 

Rorschach d. 7. Sept. 1942.

 

Sehr geehrte Herren Bundesräte!

 

Wir können es nicht unterlassen, Ihnen mitzuteilen, dass wir in den Schulen aufs höchste empört sind, dass man die Flüchtlinge so herzlos wieder in das Elend zurückstösst. Hat man eigentlich ganz vergessen, dass Jesus gesagt hat, „Was ihr einem der geringsten unter euch getan habt, das habt ihr mir getan.“ Wir hätten uns nie träumen lassen, dass die Schweiz, die Friedensinsel, die barmherzig sein will, diese zittern­den, frierenden Jammergestalten wie Tiere über die Grenze wirft. Haben nicht alle diese Menschen noch die ganze Hoffnung auf unser Land gelegt, und was für eine grausame, schreckliche Enttäuschung muss es sein, wieder zurückgestossen zu werden, von wo sie gekommen sind, um dort dem sichern Tod entgegenzugehen. Es kann ja sein, dass Sie den Befehl erhalten haben, keine Juden aufzunehmen. Aber der Wille Gottes ist es bestimmt nicht, doch wir haben Ihm mehr zu gehorchen als den Menschen. Wo wir zum Sammeln aufgerufen wurden, taten wir es sehr gerne für unser Heimatland und haben willig die Freizeit geopfert, deshalb erlauben wir uns, für die Aufnahme dieser ärmsten Heimatlosen zu bitten!

 

Mit Hochachtung und vaterländischer Verbundenheit grüssen

 

Sekundarschule

Klasse 2c

[22 Unterschriften der Klasse von 32 Schülerinnen.] 

 

Der Vorsteher des eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements entwarf den Antwortbrief:

 

Meine liebe junge Schweizerin,

 

Du hast dem Bundesrat den Marsch gemacht, Du hast ihn mit Vorwürfen überschüttet und ihm zu verstehen gegeben, dass Du mit seiner Haltung in der Flüchtlingsfrage nicht einverstanden bist.

 

Ich weiss nicht, woher Du Deine Weisheit hast und wer Dir Auskunft gab. Ich weiss nicht, ob sich Dein Berater auch wirklich selber gewissenhaft und am richtigen Ort erkundigt hat.

 

Weisst Du, dass bis jetzt für Flüchtlingshilfe mehr als 17 Millionen Franken ausgegeben worden sind? Kannst Du Dir eine Vorstellung machen, was das bedeutet?

 

Weisst Du, dass wir mit einer kommenden Arbeitslosigkeit rechnen müssen? Weisst Du, dass, wenn wir Tausende und Tausende von weiteren Flüchtlingen aufnehmen, jeder Flüchtling den Wunsch und das Bedürfnis hat, arbeiten zu können, und unglücklich und unzufrieden ist, wenn er immer nur in einem Arbeitslager bleiben muss? Weisst Du, dass jeder Flüchtling den Wunsch hat, in der Schweiz verdienen zu können, und dass er unseren Soldaten, die im Wehrkleid sind, oder Deinem Vater und Deinem Bruder die Arbeitsstelle wegnehmen würde, wenn nicht eine richtige Kontrolle besteht?

 

[Nach 90 Zeilen:]

 

Du kannst sicher sein, dass wir uns mit unserer Tätigkeit vor unseren Vorfahren, vor der ganzen anderen Welt und vor dem lieben Gott verantworten dürfen. Vor diesem Examen habe ich nicht Angst. Es wird streng sein, aber gerecht.

 

[...]

 

Für heute grüsse ich Dich ganz herzlich. Du wirst wenigstens gemerkt haben, dass ich Deinen Brief nicht in den Papierkorb geworfen habe.

 

Dein

sig. Ed[uard]. von Steiger

 

Der Entwurf wurde nicht abgeschickt.

 

Fünf Jahre später, am 12. November 1947, erklärte Bundesrat von Steiger:

 

Wenn man gewusst hätte, was sich drüben im Reich abspielte, hätte man den Rahmen des Möglichen weiter gespannt.

 

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