Agathe Salina: und die Frau im bäuerlichen Milieu.

1910 – 2008.

 

Aufgenommen am 17. Februar 1989 in Lausanne.

Agathe Salina – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Wer wissen will, aus welchem Holz die famosen Primarlehrerinnen geschnitzt waren, die bis in die siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts von den staatlichen Lehrerinnenseminaren in die Schulen des Landes geschickt wurden, kann eines dieser ausgestorbenen Exemplare im Internet-Museum der „Plans Fixes“ besichtigen: Agathe Salina repräsentiert den Typ, ethnogra­phisch gesprochen, beeindruckend „rein“. <

 

Wenn Agathe Salina von ihrer Arbeit als Erwachsenenbildnerin in Afrika, Asien und Südamerika spricht und dabei sagt: „Frau, das bedeutet immer auch Familie“, so beendet sie den Satz mit der Formulierung: „wofür ich gerade kein Beispiel bin“. Die muntere 79-Jährige blieb zeitlebens ledig. Warum, das thematisiert der Gesprächsleiter Bertil Galland nicht. Er verpasst, beziehungsweise torpediert ohnehin alle Chancen, die die Begegnung bietet. Laufend fällt er der alten Dame ins Wort. Sobald sie anfängt, ein Thema zu entwickeln, stoppt er sie ab und lenkt sie durch eine Frage auf ein neues Gebiet. Dieses Herumheuen hat zur Folge, dass der Film nur aus abgerissenen Anfängen besteht, keine Richtung hat und kein Ganzes bildet.

 

Die alte Lehrerin aber war es gewohnt, den Unterricht aufzubauen. Am Ende jeder Lektion stand ein Lehrziel, das es erreichen galt. Deshalb spürt man bei Agathe Salina schon nach wenigen Worten, dass sie auf etwas hinauswill. Sie legt die Mitteilung auf Steigerung an und schafft damit Spannung. Die Inhalte verbinden sich nicht zur Aufzählung, sondern zur Geschichte. Folglich werden die Elemente zu Gliedern einer Kette, und durch ihre Funktionalität prägen sie sich ein. Auf diese Weise wendet die erfahrene Lehrerin intuitiv das oberste Gesetz des guten Erzählens an. Es lautet: Folgerichtigkeit, nicht Beliebigkeit.

 

In seinem legendären Handbuch „The Oxford Companion to Music“, welches die Oxford University Press ein halbes Jahrhundert lang vertrieb, definierte Percy A. Scholes „Quality in music“ mit den Worten:

 

Leben. Erstens: Gute Musik hat Leben, schlechte Musik oft nicht. Es ist einfacher, diese Eigenschaft zu erkennen, als sie zu definieren. Eine Melodie, die ziellos umherwandert, ist nicht lebendig. Das zeigt der Vergleich mit der Anfangsphrase einer Sonate, einer Symphonie oder eines Streichquartetts von Beethoven – seine Phrase zieht in jedem Fall die Aufmerksamkeit auf sich, so wie es die Anfangsphrase so vieler Essays von Bacon macht. Wir fühlen uns sofort in der Gegenwart von Leben.

 

In einem „guten“ Musikstück hält dieses Gefühl (sofern wir selbst durch natürliche Stärke und Erfahrung in der Lage sind, den Entwicklungs­gängen des Komponisten zu folgen) bis zum Ende der Komposition an. Dabei kann, ja muss hier und da eine gewisse Abschwächung der Inten­sität auftreten, aber jede Passage wird als bedeutsam empfunden und nicht bloss als „Füllmaterial“.

 

Wahrscheinlich weist nicht ein Zehntel der „populären“ oder ernsten Musik, die heute oder zu irgendeiner Zeit produziert wird, diese Eigenschaft auf, deren Vorhandensein oder Nichtvorhandensein dazu führt, dass man ein Werk als „inspiriert“ oder lediglich als „gemacht“ empfindet.

 

Originalität. Man kann sagen, dass gute Musik „individuell“ und „persönlich“ ist. Ein Komponist ist immer dann am besten, wenn er am meisten er selbst ist, und das ist der Grund, warum die besten Werke so vieler Komponisten für das Publikum am schwierigsten aufzunehmen sind. Gerade die Originalität, die am Ende ein Werk fest im regulären Repertoire verankert, kann, wenn die Komposition zum ersten Mal erklingt, ein Hindernis auf dem Weg dorthin sein – das Ohr ist ein konservatives Organ.

 

Mit solchen Worten lässt sich auch Agathe Salinas Qualität der Rede definieren. Doch wie bei > Pierre-Olivier Walzer und vielen anderen Gesprächspartnern lässt sich Bertil Galland nicht auf das ein, was die Frau zu sagen hat.

 

Am Anfang der Darlegungen beschreibt sie ihre afghanischen Schülerinnen. Es handelt sich um eine Handvoll junger Erwachsener, die in den Jahren 1956–1958 zu Hauswirtschaftslehrerin­nen ausgebildet werden sollen. Das Schulgelände befindet sich in einem ehemaligen Serail. Sobald die Frauen hinter die Mauer gekommen sind, werfen sie mit einer eleganten Gebärde den Tschador hinter sich. Zwar sind sie äusserst aufgeweckt und lernbegierig, doch legen sich gesellschaftlicher Druck, Tradition, Vorurteile und Tabus der Assimilation wissenschaftlicher Denkweisen in die Quere. Darum schrieb 1691 der Frühaufklärer Christian Thomasius in seiner Anleitung zur „Ausübung der Vernunft-Lehre“: „Miste vor allen Dingen deinen Verstand aus, das heisst: Lege die Verhinderungen [Tabus] weg und bestreite die Vorurteile als Ursprung aller Irrtümer.“ 

 

Agathe Salina macht sich daran, die Eigenart des aufklärungsfeindlichen Gebräus zu beschreiben, das die Aufnahmebereitschaft ihrer Schülerinnen behindert. Doch Bertil Galland unterbricht sie: „Gleichwohl wurden Sie von den Bräuchen fast verführt, wenn ich so sagen darf, als Sie die Zauberin aufsuchten!“ Die Angesprochene ruft mit frohem Lachen: „Ah, dann erzähle ich jetzt die Geschichte (je la raconte)!“, und Galland bekräftigt: „Erzählen Sie sie!“

 

Kunstvoll baut Agathe Salina die Anekdote auf. Den Ausgangspunkt bildet eine Nasennebenhöhlenentzündung (Sinusitis). Im Kabul der 1950er Jahre kann man sich dagegen nicht behandeln lassen. Es fehlt an Medikamenten und Ärzten. Ein Freund verrät, wie die Einheimischen Heilung finden, und die Geschichte kommt in Fahrt: Die Afghanen suchen eine Zauberin auf. Agathe Salina führt den Zuhörer in ein altes Viertel mit engen Gassen. Sie beschreibt die Tür, an die sie klopft. Ein kleines Guckfenster geht auf. Jetzt wird sie eingelassen. Lange Korridore. Am Ende ein Zimmer. Da erlebt sie den Empfang durch die Zauberin. Es gibt Tee. Die heilkundige Frau klatscht in die Hände. Helferinnen bringen die Mittel, welche die Kranke zu Hause verwenden soll. An dieser Stelle kürzt Bertil Galland die Erzählung ab: „Daraufhin wurden Sie gesund.“ So stiehlt er Agathe Salina die Pointe und betrügt sie um die Abrundung der Geschichte. Aber eben, schon der Volksmund wusste: „Es hören nicht alle, die Ohren haben.“

 

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