6. Dezember 1932 –
Aufgenommen am 11. Oktober 2011 in Chêne-Bougeries.
Tikhon Troyanov – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)
> 2011 war Russland nicht geächtet. Wladimir Putin hatte es noch nicht nötig, sich in die Arme des grossen Bruders Kim Jong-un und der lieben Mullahs im Iran zu werfen. Und dennoch wollte Tikhon Troyanov schon 2011 keine Prognose abgeben. Von den „Plans Fixes“ nach der Zukunft seines Vaterlands befragt, erwiderte er: „Die Lage ist unsicher. Russland hat es in den letzten hundert Jahren nicht geschafft, einen stabilen, klassischen Staat zu bauen. Dieser Rückstand schlägt zu Buche.“ <
Die Sammlung der „Plans Fixes“ ermöglicht die Begegnung mit vier typischen Russen, die in der Schweiz Wohnsitz gefunden haben:
- Da ist > Nicolas Romanoff, der Ur-Urenkel des Zaren Nikolaus II. Hätte es die Revolution nicht gegeben, wäre er Zar geworden. Stattdessen lebt er bei der Aufnahme im Jahr 2011 im Waadtländer Alpendorf Rougemont. Er vertritt den Typus des exilierten Aristokraten.
- Auf dem Eisfeld war > Slava Bykov König; zuerst als Mittelfeldspieler, dann als Trainer. Seine Verbundenheit zum Vaterland reicht so weit, dass er beim Überfall auf die Ukraine von einem „grossen patriotischen Krieg“ spricht. Die „Spezialoperation“ werde dazu dienen, „den russischen Geist zu stärken und die alte Sowjetmacht wiederzuerlangen“. Bykov vertritt den Typus des russischen Spitzensportlers im Ausland.
- Beim Béjart Ballet Lausanne beeendete > Azari Plissetski 1991 als Lehrer seine internationale Tänzer- und Choreographenkarriere. Am Bolshoi-Theater hatte er vor Stalin getanzt, in Havanna und Madrid eigene Truppen geleitet. Er steht für den Typus des russischen Tänzers, welcher die darstellenden Künste des 20. Jahrhunderts mitgeprägt hat.
- Als Sohn eines russisch-orthodoxen Priesters, der die Gläubigen in Lausanne betreute, wurde Tikhon Troyanov als Schweizer Bürger Rechtsanwalt mit eigener Kanzlei in Genf. Er verkörpert den Typus des kultivierten, liberalen russischen Bürgertums. Gern verbrachte es mit der Familie den Sommer in den gehobenen Hotels von Montreux und Baden-Baden.
Den Schweizer Boden betrat Tikhon Troyanov zum ersten Mal mit elf Jahren. Aufgewachsen war er in Belgrad. Dort hatte sein Vater, Revolutionsflüchtling, russisch-orthodoxe Theologie studiert und als Priester gewirkt. Die Mutter – auch sie vor der Revolution geflüchtet – hatte sich zuerst ins Baltikum abgesetzt. Doch der Einmarsch der Russen vertrieb sie kurze Zeit später ebenfalls nach Belgrad, dem Hafen für die konservativen patriotischen Kreise, während für die russische Intelligenz Paris den Zufluchtsort darstellte. „Die Ehe meiner Eltern, die Geburt von meiner Schwester und mir sind das Resultat der Revolution“, resümiert der 79-jährige Jurist in seiner behaglichen Wohnung.
Die Flucht in die Schweiz war veranlasst worden durch den Vorstoss der russischen Truppen nach Serbien im Jahr 1944. Der Vater befürchtete, für seinen Einsatz gegen die Revolution von den Sowjets belangt zu werden. Also machte sich die Familie, zusammen mit zwei weiteren, zu Fuss über die Alpen. Alle trugen nur ihre Kleider. Der Marsch dauerte vier Tage. „Wir hatten Glück“, erklärt Tikhon Troyanov. „Das Wetter war schön. Und von der Schweiz wurden wir gut aufgenommen.“
An der Universität Lausanne konnte Tikhon Troyanov Jus studieren. Dann kam er als Nachrichtenredaktor nach München zu Radio Liberty, bzw. Radio Svoboda. Nach ein paar Jahren übernahm er für den Sender die Berichterstattung über die internationalen Gremien in New York. „Ich kam mit vielen interessanten Menschen zusammen“, sagt Tikhon Troyanov und nickt dazu leicht. Ausgeglichenheit und Zurückhaltung sind die Kerntugenden des Anwaltsberufs.
„Radio Liberty galt als antisowjetisch“, wirft Nadia Sikorsky, die Gesprächspartnerin, ein. „Machte Ihnen das keine Schwierigkeiten?“ „Nein. Die Sowjetunion war ein Irrtum“, entgegnet Tikhon Troyanov freundlich und gelassen. „Es ist den Kommunisten nie gelungen, eine funktionierende Wirtschaft und einen ordentlichen Staat zu konstruieren. Mit ihrem Versagen haben sie die russische Entwicklung hundert Jahre zurückgeworfen. Das macht dem Land noch heute zu schaffen.“
Tikhon Troyanovs Blick auf das Land seiner Väter wurde im Lauf der Jahre immer schärfer, kenntnisreicher, tiefer. Grundlage bot die Erforschung des sowjetischen Rechts: Nach fünf Jahren Tätigkeit als Journalist verfasste er an der Universität Lausanne eine Dissertation über die juristische Natur der kollektiven Arbeitsverträge in der Sowjetunion. Dann stiess er in St. Moritz auf den ersten Klienten: „Ich suche einen Schweizer Fürsprecher, der russisch spricht.“
Seine Spezialität machte Troyanov in Moskau zum Begriff. Er begann, die Interessen der Schweizer Botschaft zu vertreten. Er liess sich als Fachmann für die Verträge zwischen russischen und schweizerischen Geschäftspartnern beiziehen. Er eröffnete in Moskau nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1990 eine Filiale seiner Genfer Kanzlei. Und er wurde zum Anwalt Alexander Solschenizyns.
Für einen Geschichtsprofessor der Universität Moskau übernahm er mit akribischer Prüfung aller Fakten die Endredaktion der ersten neutralen, wissenschaftlichen Darstellung der russischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, welche auch die Greuel nicht vertuscht. „Wir wurden angefeindet. Aber die beiden Bände sind korrekt.“
In seiner behaglichen Wohnung am Südrand des Genfersees verkörpert Tikhon Troyanov den Typus des kultivierten, liberalen russischen Bürgertums. Sein Charakter ist geprägt vom europäischen Geist. – Umgekehrt hat Europa von der russischen Emigration viel profitiert: Igor Strawinsky als Komponist, Sergei Pawlowitsch Djagilew als Leiter der Ballets russes, Marc Chagall und Wassily Kandinsky als Maler haben die europäische Kunst vorangebracht.
Nun wünscht der Schweizer Anwalt mit russischen Wurzeln dem Land seiner Väter Offenheit für den europäischen Geist ... Das sagte er 2011. Damals war die Partie noch nicht gewonnen. Heute ist sie verloren.