Emil Steinberger: Humorist.

6. Januar 1933 –

 

Aufgenommen am 26. November 2012 in Montreux Palace.

Emil Steinberger – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Gegen 80 ist Emil Steinberger mit seiner Frau Niccel nach Montreux gezogen: „Ein Haus war eingerüstet. Darauf stand: ‚Zu verkaufen‘. Wir erkundigten uns und bekamen es.“ Glück – das Lieblingswort des Schöpfers von Emil. Es bildet Anfangs- und Endpunkt des Gesprächs mit den „Plans Fixes“. <

 

Für die Aufnahme braucht Emil Steinberger nicht französisch zu reden. Er darf sich des Hochdeutschen bedienen. Wer ihn nicht versteht, kann die Funktion „Untertitelung“ wählen. Unter den 380 Prominenten der „Plans Fixes“ teilt der Komiker das Privileg nur noch mit zwei Russen: dem Tänzer, Choreografen und Ballettlehrer > Azari Plissetski und dem Advokaten > Tikhon Troyanov.

 

Von den drei Fremdsprachigen ist Emil Steinberger mit Abstand der Populärste. Das Glück verdankt er seiner Figur, dem Emil. Mit ihm wurde er berühmt. Zuerst in Luzern, dann in Zürich, der Deutschschweiz, der Westschweiz und am Ende gar in Deutschland. Alle erkannten in ihm den typischen (Deutsch-)Schweizer mit seinen Beschränkungen und Marotten.

 

Steinberger stellte den ungelenken Zeitgenossen in ein mildes Licht. Wie ein Clown ging Emil mit der Beflissenheit eines leicht zurückgebliebenen Schülers in die Situation, und seine Gutartigkeit weckte Nachsicht. Deshalb sagten die Zuschauer: „Was wollt ihr?! Wir haben alle etwas von ihm. Er ist im Grund ein lieber Kerl.“ Mit seiner  Kunstfigur befriedigte der Komiker Emil Steinberger das Bedürfnis, welches die Menschen ins Theater treibt: Selbsterkenntnis.

 

Das „Negativ“ (um einen Ausdruck der Lichtbildkunst zu verwenden) lieferte der Schwarzseher Thomas Bernhard. In seinem Stück „Minetti. Ein Portrait des Künstlers als alter Mann“ lässt er den Schauspieler sagen:

 

Das Publikum strömt allen Seiten

strömt strömt von allen Seiten

um den Schauspieler zu sehen

und der Schauspieler begegnet dem Publikum mit nichts

als mit Unheimlichkeit

Das Publikum wird auf die Probe gestellt

Das Publikum muss von dem Schauspieler entsetzt sein

Zuerst hat er es zu hintergehen

und dann hat er es zu entsetzen

Die grossen Schauspieler haben ihr Publikum immer entsetzt

zuerst haben sie es hintergangen

und dann haben sie es entsetzt

in die Geschichtsfalle gelockt

in die Geistesfalle

in die Gefühlsfalle

hineingelockt in die Falle

und entsetzt

Der grösste Feind des Schauspielers

ist sein Publikum

Wenn er das weiss

steigert er sich in seiner Kunst

In jedem Augenblick muss sich der Schauspieler sagen

das Publikum stürzt auf die Bühne

In diesem Zustand hat er zu spielen

gegen das Publikum

gegen die Menschenrechte verstehst du

Zeitlebens habe ich

gegen das Publikum gespielt

 

Emil Steinberger hat Bernhards Negativ belichtet und einen positiven Abzug gewonnen. Auf ihn gewendet muss es heissen:

 

Das Publikum strömt allen Seiten

strömt strömt von allen Seiten

um den Komiker zu sehen

und der Komiker begegnet dem Publikum mit nichts

als mit Vertrautem

Das Publikum wird in seinen Auffassungen bestätigt

Das Publikum muss von dem Komiker beglückt sein

Zuerst hat er es zu verführen

und dann hat er es zu beglücken

Die grossen Komiker haben ihr Publikum immer beglückt

zuerst haben sie es verführt

und dann haben sie es beglückt

in den Geschichtszauber gelockt

in den Geisteszauber

in den Gefühlszauber

hineingelockt in den Zauber

und beglückt

Der grösste Freund des Komikers

ist sein Publikum

Wenn er das weiss

steigert er sich in seiner Kunst

In jedem Augenblick muss sich der Komiker sagen

das Publikum stürzt auf die Bühne

In diesem Zustand hat er zu spielen

für das Publikum

für die Menschenrechte verstehst du

Zeitlebens habe ich

für das Publikum gespielt

 

Die Popularität des Komikers erklärte Alex Freihart, Direktor des einstmaligen Städtebundtheaters Biel-Solothurn, mit den Worten: „Der Mensch ist ein Affe. Er macht nichts lieber, als sich im Spiegel zu betrachten.“ Gediegener formulierte dasselbe Paul Heyse (1830-1914), der erste deutsche Nobelpreis­träger für Literatur (1910):

 

Der Mensch bleibt auch in seinen Unzulänglichkeiten dem Menschen doch immer das Interessanteste.

 

In Solothurn führte Alex Freihart aus: „Es gibt Schauspieler, die sich von Rolle zu Rolle verwandeln. Und es gibt Schauspieler, die immer sich selber spielen. Von beiden gibt es gute und schlechte. Doch populär werden nur die, die immer sich selber spielen.“

 

Bei der Aufnahme in Montreux definiert sich Emil Steinberger als Instinkt­komiker. Er muss im Flow sein, um das Ausserordentliche zu leisten. Proben sind ihm – wie beim Schlafwandler – dazu hinderlich. Er muss mit geschlos­senen Augen in eine Situation hineinspringen können. Dort reagiert er spontan aufs Gegebene, das heisst: er beginnt, mit ihm zu spielen. Unter diesen Bedingungen stimmt der Auftritt für ihn – und das Publikum.

 

Anders der grosse Gerd Voss, für den Thomas Bernhard ein eigenes Stück geschrieben hat: „Ritter, Dene, Voss“. Wenn Voss Vorstellung hatte, kam er schon morgens um neun ins Burgtheater. Er ging durch die verlassenen Korridore und sprach, um sich in die Rolle zu finden, den Text vor sich hin. Dann betrat er die Garderobe, setzte die Perücke auf und ging mit ihr murmelnd über die Bühne. Danach zog er einzelne Kostümteile an. Später schminkte er sich. Immerzu sprach er die Worte der Rolle und senkte sich tiefer und tiefer in die Figur, bis er, vollständig in ihr angekommen, als Othello das Scheinwerferlicht betrat.

 

Die Künstler des anderen Typs erreichen wie Emil das Theater in letzter Minute, albern in der Kantine herum, scherzen, um die Nervosität abzuladen, noch dreissig Sekunden vor dem Auftritt mit dem Feuerwehrmann und springen dann mit geschlossenen Augen in die Vorstellung. – Carl Zuckmayer schildert ein solches Beispiel an Werner Krauss (Burgschauspieler auch er):

 

Alles Wesentliche seiner Natur gibt er als Schauspieler – und als Schauspieler ist er in seiner Art ein ganz grosser Kerl. Hier entfalten sich Dämonien, die weit über das artistische Können hinausgehen. Mir fällt ein kleiner Vorfall ein, der sich in meinem Haus in Henndorf, – wo Krauss, der im Sommer am Mondsee lebte, mich oft besuchte, – abgespielt hat. Ich besass eine sogenannte „schieche Perchtenmaske“, – ein sehr seltenes und merkwürdiges Stück, etwas über 200 Jahre alt, wie sie in österreichischen Gebirgsdörfern bis in die heutige Zeit [1940] hinein beim „Rauhnachteln“, bei Fastnachts- oder Adventumzügen, bei allerlei urheidnischen Volksbräuchen, als eine Art Gespensterschreck (Bannung, Beschwörung, Teufelsdarstellung) getragen wurden. Wir hatten sie auf dem Dachboden eines alten Hauses gefunden und erstanden. Es war ein schauerliches Ding – ein grosses, aus glattpoliertem Holz geschnitztes Gesicht, mit Lederbändern hinterm Kopf zu befestigen, fast wie eine Negerteufelsmaske, übertrieben lange Nase, böse schielende Schlitzaugen, grässlich bezahnter Rachen, ein Haarschopf von gelbem Flachs. Sie war so beängstigend, dass niemand in meinem Haus sie sehen wollte oder ertragen konnte, mir selbst ging es ähnlich, wir fürchteten uns alle ein bisschen davor, und ich hielt sie nun auch auf dem Dachboden in einer Kiste verborgen. Im Verlauf eines langen Nachmittags, wo uns der Wein zwischen Frühstück und Abendessen nicht ausging, kam das Gespräch mit Krauss auf die „Mimik“, – auf den mimischen Ausdruck des Schauspielers im Theater und im Film, – wo die Grossaufnahme ihm neue Wirkungsmöglichkeiten detaillierter Art gegeben habe, die es früher nicht gab. Das, sagte Krauss, sei ihm im Grund am Film verhasst. Denn er wolle ja nicht durch einen mit Mikroskop zu beobachtenden Gesichtsausdruck wirken. Dafür – sei er nicht Schauspieler geworden. Er wolle ja – – (er dachte lange nach und sagte dann:) zaubern. Ja, zaubern. – Er verachte Schauspieler, sagte er im weiteren Verlauf des unvergesslichen Gesprächs, die es mit der „Mimik“ schaffen müssen. Das seien Fratzenschneider. Dazu seien auch die Dichtungen nicht geschrieben. Die grosse dramatische Dichtergestalt – die müsste man eigentlich mit einer Maske spielen können. Ja – das sei das Wahre. [Bei Thomas Bernhard spielt Minetti mit einer Maske von Ensor.] Er habe einmal gehört, dass man im klassischen Altertum mit Masken gespielt habe. Das habe er sich heimlich immer gewünscht. Er sei überzeugt, dass es niemand „merken“ würde, im Publikum, falls er wirklich in Form sei und eine Rolle beherrsche, – ob er eine Maske trage oder sein wirkliches Gesicht so oder so maskiere. Die Maske sei ja der eigentliche Sinn des Sich-Schminkens. Erst hinter der Maske – könne man: halt zaubern.

 

Ich kam plötzlich auf die Idee, eine Probe mit ihm zu machen, – da er von seinem Daimon besucht schien, – und holte rasch die grässliche schieche Perchtenmaske herunter. Krauss wurde ganz fasziniert. Er drehte sie hin und her und murmelte vor sich hin, während am Tisch die Unterhaltung weiterging, – aber plötzlich setzte er die Maske auf, und alles wurde ganz still. Eine Zeitlang wiegte er den Kopf, man sah nur die Maske und seine, aus den Hemdsärmeln ragenden, sonderbar nackt wirkenden und ausdrucksvollen Hände. Auf einmal sagte er: „Ach – ich bin ja so traurig. Ich kann es nicht überwinden. Ich muss ja weinen. In mir ist alles voll Schmerz. Mein Lebenlang könnt ich weinen.“ Auch seine unheimlich starke Stimme war fast monoton. Wir aber sahen alle die Maske weinen. Er fuhr noch eine Zeit lang so fort, er erzählte eine Geschichte, wie ihm die Geliebte gestorben sei, und er wisse, es war seine Schuld. (Auch wenn wir alle – einschliesslich seiner zweiten Frau, die mit am Tisch sass – nicht gewusst hätten, dass sich seine frühere Frau umgebracht hatte – es wäre gleich packend gewesen.) Die Maske bekam den Ausdruck tiefster Verzweiflung und schrecklichen, unheilbaren Unglücks. Sie weinte, lautlos und laut. Dann kicherte er plötzlich verlegen und nahm die Maske für einen Moment ab, schien aber selbst gar kein Gesicht zu haben. „Weiter“, sagte ich und gab ihm ein neues Glas. Er leerte es, lehnte sich zurück, setzte die Maske wieder auf und schlug sich plötzlich – ohne zu lachen – auf den Schenkel. Nur den Atem zog er ein wie ein wie einer, der sich so amüsiert, dass ihm das Lachen im Hals stecken bleibt. „Kinder“, keuchte er dazwischen, – „Ist das komisch!!“ – Ich kann es beschwören, die Maske grinste und schepperte.

 

Es ging lange so weiter, er spielte Szenen der Komik, des Glücks, der Verzweiflung, des unversöhnlichen Hasses, des Misstrauens und der Furcht – nur mit den Händen und der Maske, und immer nur von ganz primitiven stichworthaften Sätzen begleitet. Wenn er den Kopf schief legte und plötzlich sagte: „Jetzt bin ich böse“, – mit einem fast kindisch manirierten Ton wie manchmal sein Franz Moor, – wurde uns kalt. Wenn er lachte, mussten wir uns den Bauch halten. Es war wie eine hypno­tische oder magische Seance. Ich habe dann die Maske wieder weggesperrt. So viel über Krauss als Schauspieler …

 

Diesen Schauspieler dürfte die deutsche Bühne nie verlieren, solang er lebt.

 

Carl Zuckmayers Beschreibung des dämonischen Künstlers passt auch auf Emil Steinberger. Doch im Unterschied zu Werner Krauss war sein Spiel immer geprägt von Nachsicht mit den Figuren, und durch seine Liebens­würdigkeit verführte er die Zuschauer und spielte sich in ihre Herzen.

 

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