17. Februar 1915 – 26. November 2002.
Aufgenommen am 3. Dezember 1990 in Yens.
Raymond Gafner – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)
> Im Film aus dem Jahr 1990 dokumentieren die „Plans Fixes“ einen Pragmatiker reinsten Wassers. „Für den Dienst an der Allgemeinheit“, so die Formel, hat er „stets sein Bestes gegeben“. Mit dieser „Dienstauffassung“ im wörtlichen wie übertragenen Sinn füllte Raymond Gafner den ihm vorgegebenen Rahmen einwandfrei aus. <
Der Rahmen, in dem sich Raymond Gafner bewegte, war, naturgegeben, ursprünglich lokal begrenzt: Primarschule, Sekundarschule, Gymnasium, Universität – alles in Lausanne. In der Vertikalen jedoch, da bewegte er sich bald in höheren Sphären. Es ging ihm um Selbstüberwindung. „Als Kind war ich schmächtig und scheu“, erzählt der alte Herr lächelnd. „Doch das wollte ich abwerfen.“ Darum machte er aus dem Obenstehen sein Ding.
Die andern nahmen ihm das Bestreben ab. Offenbar war er zum Führen gemacht. In seinem Buch „Winning. Das ist Management“ erklärte Jack Welch im Kapitel „Was in Toppositionen notwendig ist“:
Erstens: Authentizität (oder Glaubwürdigkeit). Warum? Der Grund ist simpel: Man kann nur dann klare Entscheidungen treffen (und durchsetzen), unpopuläre Meinungen erfolgreich vertreten oder für das, woran man glaubt, wirklich geradestehen, wenn man sich selbst genau kennt und sich in seiner Haut wohl fühlt. Hier geht es um Selbstvertrauen und innere Überzeugung.
Authentizität ist aber auch deshalb wichtig, weil sie für Akzeptanz und Respekt sorgt. Wegen ihrer Geradlinigkeit und Natürlichkeit kommen solche Manager bei ihren Mitarbeitern gut an – man nimmt ihnen ab, was sie sagen.
In meiner Zeit bei General Electrics passierte es manchmal, dass durchaus erfolgreiche Manager einfach nicht weiter befördert werden konnten. Anfänglich konnten wir das selbst nicht richtig begründen, denn im Prinzip war alles in Ordnung – von den gelebten Werten bis hin zu den Ergebnissen. Auffällig war allerdings, dass sie mit ihren Mitarbeitern nicht so gut klarkamen. Woran das lag? Wir kamen irgendwann darauf, dass alle diese Führungskräfte etwas Falsches, Gekünsteltes an sich hatten. Sie versuchten, mehr zu sein, als ihre Möglichkeiten hergaben – souveräner, draufgängerischer, kompetenter, als sie in Wirklichkeit waren.
Führungskräfte von Format dürfen kein Jota Künstlichkeit im Leib haben. Sie müssen genau wissen, wer sie sind. Nur so können sie überzeugend wirken, Menschen beflügeln und mit einer natürlichen, aus Authentizität erwachsenden Autorität führen.
Mit der Ausstrahlung von Geradlinigkeit, Verlässlichkeit und Überlegenheit wurde Raymond Gafner bei den Pfadfindern Kommandant der Brigade de Sauvabelin. Die Korpsstudenten wählten ihn zum Präsidenten der Zofingia. Die freisinnige Partei des Kantons Waadt (Parti radical vaudois) machte ihn zum Präsidenten. So auch die schweizerische Eishockey-Liga und das Schweizerische Olympische Komitee (1965-85). 1969 schaffte Raymond Gafner die Wahl ins Internationale Olympische Komitee, war dort von 1985 bis 89 unter dem Präsidenten Juan Antonio Samaranch Generaldirektor, dann Ehrenmitglied und 1993 Mitbegründer des olympischen Museums in Lausanne.
Die Armee beförderte ihn zum Offizier. Während des Zweiten Weltkriegs entwickelte sich der 25-jährige Oberleutnant in weit über tausend Diensttagen zum Berater und Vertrauensmann der Untergebenen. Indem er Soldaten und Unteroffizieren die Sorgen abnahm, gewann er ihre Dankbarkeit und Mitarbeit. Kein Wunder, ging die Karriere nach Kriegsende weiter. Bei seiner Truppe brachte er es zum Regimentskommandanten und erreichte den Ruhestand als Oberst der motorisierten Infanterie.
Raymond Gafner liebte es zeitlebens, auf verschiedenen Brettern zu spielen. 1945 promovierte er an der Universität Lausanne zum Dr. iur. Seit drei Jahren mit der Sekundarlehrerin Marcelle Lambert verheiratet und Vater zweier Kinder, erwarb er bis 1952 sein Einkommen in der Versicherungsagentur des Vaters. Danach wurde er für 26 Jahre (1954-1980) Leiter des Kantonsspitals Lausanne (CHUV).
Das Erlebte verarbeitete Raymond Gafner in sechs Romanen mit olympischer Thematik. Einer handelt vom Doping, dem ewigen Thema des Spitzensports. Über die Pariser Olympiade schreibt heute Claudio Catuogno, der Leiter des Ressorts Sport, in der „Süddeutschen Zeitung“:
Ob man alles glauben darf, was man da sieht? Fünf Weltrekorde im Bahnradsprint an einem Abend? Eine Läuferin, die ihre Konkurrentinnen hinter sich lässt, als seien sie fusslahm? Selbst der aufgeklärte Teil des Weltpublikums nimmt solche Darbietungen inzwischen mit einer anderen Grundhaltung hin: Hauptsache, es macht beim Zuschauen Spass. Und im Zweifel schummeln sowieso immer die anderen, oder nicht?
Diesen Spielen haben nicht einmal die 23 positiv getesteten, von den Anti-Doping-Instanzen aber devot durchgewunkenen chinesischen Schwimmer geschadet. Man ahnt doch inzwischen ohnehin, was läuft: dass die Hunderttausenden jedes Jahr erhobenen Dopingtests, die nur einen Teil der gängigen Substanzen überhaupt nachweisen können, primär dem Zweck dienen, den schönen Schein abzusichern. Dass die Grenzen zwischen Ausnahmeleistung und Freakshow fliessend sind. Man weint die Freudentränen vor dem Fernseher trotzdem bereitwillig mit.
Zu seiner Zeit schon zuckte der Pragmatiker Raymond Gafner mit den Schultern. Er sah die Dinge von aussen – und von oben. Am Ende der Aufnahme bekannte der 75-Jährige: „Es kommt mir immer vor, als sei ich auf der Fahrt durchs Weltall in die falsche Kapsel geraten und auf der Erde gelandet statt am wirklichen Ziel. Aber da bin ich nun. Ich muss mit dem arbeiten, was ich vorfinde, um den Menschen, die hier leben, mein Bestes zu geben.“
Das Beispiel zeigt: Mit dieser Einstellung bringt man es weit. Zumal Raymond Gafners E.T.-Geschichte an Friedrich Dürrenmatt erinnert. Als das Genie gefragt wurde, wie es dazu gekommen sei, so viel zu schreiben, antwortete es: „Ich hatte sonst nichts zu tun.“ Auf uns gemünzt bedeutet das: Mach dein Ding!