16. Juli 1923 – 12. November 2019.
Aufgenommen am 5. Dezember 1991 in Grandvaux.
René Henny – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)
> René Henny starb mit 96 Jahren. Im Nachruf auf den Lehrer schrieb der Tessiner Arzt und Psychoanalytiker Ferrucio Bianchi: „René Henny war an den Teamsitzungen ein anspruchsvoller und strenger Chef. Pünktlichkeit und Genauigkeit waren absolute Werte. Er konnte Furcht einflössen. In den persönlichen Gesprächen dagegen hatte er immer ein erstaunlich wohlwollendes Ohr für die Person, die ich war, und nicht nur für den Assistenzarzt, der ihm einen schwierigen Fall vorlegte.“ <
1975 wurde René Henny an der Universität Lausanne der erste Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Ausser ihm gab es in der Schweiz nur noch in Zürich einen Vertreter dieser Disziplin. René Henny behandelte seine Patienten nach dem psychoanalytischen Ansatz, erworben zwischen 1955 und 1965 am Institut de psychanalyse de Paris und am Centre Alfred Binet. Die Psychoanalyse hatte den jungen Facharzt überzeugt durch ihr Verständnis des Menschen als widersprüchliches Wesen im Konflikt mit Wunsch- und Verbotsstrebungen. Nach dieser Auffassung waren die Symptome als Manifestation solcher Spannungen aufzufassen.
Für die „Plans Fixes“ schildert der 68-jährige Emeritus, der immer noch praktiziert, wie er bei der Behandlung vorgeht. In der Regel werden ihm die Patienten von Ärzten und Institutionen zugewiesen; häufig aber auch, wie im konkreten Fall, von den Eltern: Da geht es um einen neunjährigen Adoptivsohn aus Chile, der das Bett nässt.
„Zuerst handelt es sich darum, eine Beziehung aufzubauen“, erklärt der Psychiater. „Kinder sind oft schweigsam und schwer erreichbar. Mein Mittel ist die Wandtafel. Auf ihr beginne ich zu zeichnen: ,Da ist Chile. Und da ist die Schweiz. Diesen weiten Weg hast du gemacht!‘ Nun fordere ich den Jungen auf weiterzufahren. Er malt einen kleinen Fisch. Er weint. ,Warum ist der Fisch traurig?‘ ,Er hat seinen Bruder verloren.‘“ Was Patienten mit solchen Symbolisierungen ausdrücken wollen, hat René Henny von Sigmund Freud gelernt. Darum gelingt es ihm jetzt, das Gespräch an der Tafel auf die Erkenntnis zuzusteuern: „Aha. Darum machst du Pipi ins Bett!“
Vor Übernahme der Medizinprofessur im Alter von 52 Jahren leitete René Henny 27 Jahre lang das Office médico-pédagogique vaudois. Dort ging es anfänglich um die Behandlung jugendlicher Delinquenz. Doch bald verschob sich der Schwerpunkt auf die Hilfe für Kinder und Jugendliche in Schwierigkeiten. Die ganzheitlich-humanistische Ausrichtung entsprach Hennys Charakter und Werdegang.
Schon als Pfadfinderführer hatte er sich als Helfer und Vertrauter der Gefährten verstanden. Nach der Matur unterbrach er für anderthalb Jahre das Medizinstudium, um Roger Schütz bei der Gründung der Bruderschaft von Taizé zu dienen: „Ich kümmerte mich um die Kinder und Jugendlichen des Heims, das wir übernommen hatten. Ich bereitete die Mahlzeiten zu. Die Küche wurde zum natürlichen Ort des Austauschs.“ Bei seinen Kontakten gewann René Henny ein breites Verständnis für das Leiden junger Menschen, und von da an war ihm der enge Blick ein Greuel, egal ob fachärztlich, administrativ, institutionell oder politisch.
In der Folge gestaltete er das Office médico-pédagogique nicht allein nach wissenschaftlichen, sondern auch nach humanistischen und spirituellen Gesichtspunkten. Wichtig waren Vernetzung und Interdisziplinarität. Begleitet von einer Psychologin namens Françoise, die später seine Frau wurde, nahm er Kontakt auf mit > Claude Pahud von der sozialpädagogischen Hochschule und den übrigen Institutionen des Kantons. In zehnjähriger Arbeit modernisierten sie zusammen die Behandlung von Kindern und Jugendlichen in Schwierigkeiten und schufen kohärente Strukturen für eine sozialpädagogisch ausgerichtete Jugendpolitik. „Demnach gibt es im Waadtland eine Epoche vor und eine Epoche nach René Henny“, resümiert Bertil Galland im Film.
Für die Mitarbeiter, die Studenten und Assistenzärzte war René Henny vorbildlich, aber auch streng und fordernd. „Er konnte Furcht einflössen“, schrieb Ferrucio Bianchi in seinem Nachruf. „Obwohl er mir erlaubte, ihn zu duzen, wagte ich das nicht; nicht einmal bei den Begegnungen, die ich mit ihm in einem Restaurant oder in seinem Haus in Grandvaux erleben durfte.“
Tempi passati.