Gilbert Vincent: Abbé, Freund der Schriftsteller.

7. Oktober 1933 –

 

Aufgenommen am 22. Juni 2011 in Pully.

Gilbert Vincent – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> „Ja, der Abbé Vincent ist noch unter uns und sehr präsent!“, meldet Laure-Christine Grandjean, die Kommunikationsverantwortliche des Bistums Lausanne, Genf und Freiburg i. Ü. Per Mail übermittelt sie das Geburtsdatum des 90-Jährigen und die Stationen seiner geistlichen Laufbahn. Ausserhalb des Bistums aber kennt den frommen Mann heute nur noch der liebe Gott – – und der Neugierige, der sich die Mühe nimmt, in den „Plans Fixes“ die schöne Begegnung mit ihm abzuspielen. <

 

Eigentlich kein Wunder, existiert Abbé Vincent im Netz nicht. Wer es nicht in ein Handbuch schaffte, bevor das Internet entstand, kam nicht in das neue, weltumspannende Medium. Für ihn gilt dann – wie für alle vor uns Dahinge­gangenen – das Wort des Psalmisten:

 

Ein Mensch ist in seinem Leben wie Gras, er blühet wie eine Blume auf dem Felde; wenn der Wind darüber geht, so ist sie nimmer da, und ihre Stätte kennet sie nicht mehr. (Ps. 103, 15 f.)

 

Verschärfend kommt dazu, dass Gilbert Vincents Karriere im Dunkeln ablief. Er führte mithin eine „obskure Existenz“: „Im gemeinen Leben versteht man unter einem obskuren Menschen oder Autor häufig bloss einen unbekann­ten“, erklärte der Brockhaus 1839. Zu den obskuren Menschen gehören alle, die es bis zum Untergang der Monarchien nicht in den Glanz der Höfe schafften, danach in der Zeit der Republiken ans Licht der Öffentlichkeit und heute auf die Bühne der sozialen Medien.

 

Mit seiner Obskurität entrichtet Gilbert Vincent den Preis, Computer lang­weilig zu finden und sich nicht die Mühe zu nehmen, sie „handeln“ (englisch ausgesprochen) zu lernen. Seine Karriere lief auch sonst nicht glanzvoll. Nach der späten Ordination führte er nur das Leben eines Provinzgeistlichen.

 

Das Bistum teilt mit: 

  • 7. Oktober 1933: Geburt in Savigny (VD).
  • 2. Juli 1967: Priesterweihe in Freiburg i. Ü.
  • 14. August 1967: Ernennung zum Vikar im Rektorat Vevey-West.
  • 15. Oktober 1970: Ernennung zum Vikar in Nyon.
  • August 1971: Ernennung zum Pfarrer in der Pfarrei Cully-Chexbres.
  • 5. September 1980: Ernennung zum Hilfsgeistlichen in der Pfarrei St-Etienne in Lausanne. 

In diesen Gemeinden hat Gilbert Vincent seine Pflicht erfüllt. Auch zuweilen in leerer Kirche die Messe vollzogen. Und gleichwohl immer wieder erlebt: 

 

Herr, du erforschest mich und kennest mich. Ich sitze oder stehe, du weisst es; du verstehst meine Gedanken von Ferne. Ich gehe oder liege, du ermissest es, mit all meinen Wegen bist du vertraut. Ja es ist kein Wort auf meiner Zunge, das du, o Herr, nicht wüsstest. Du hältst mich hinten und vorn umschlossen, hast deine Hand auf mich gelegt. Zu wunderbar ist es für mich und unbegreiflich, zu hoch, als dass ich es fasste. Wohin soll ich gehen vor deinem Geiste? Wohin soll ich fliehen vor deinem Angesicht? Stiege ich hinauf in den Himmel, so bist du dort; schlüge ich mein Lager in der Unterwelt auf – auch da bist du. Nähme ich Flügel der Morgenröte und liesse mich nieder zuäusserst am Meer, so würde auch dort deine Hand mich greifen und deine Rechte mich fassen. Und spräche ich: Lauter Finsternis soll mich bedecken, und Nacht sei das Licht um mich her, so wäre auch die Finsternis nicht finster für dich, die Nacht würde leuchten wie der Tag. Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz; prüfe mich und erkenne meine Gedanken! Sieh, ob Falschheit an mir ist, und leitete mich auf geradem Wege! (Psalm 139)

 

Die Seele und ihr Gott. Darüber brauche man nicht zu reden, meint Gilbert Vincent. Man erfahre Gott im Innern. Da sei er lebendige Gegenwart. Die Dichter würden sein Walten wiedergeben, auch wenn sie es verschwiegen. Bei > Philippe Jaccottet zum Beispiel begegne man der Transzendenz.

 

Zu Philippe Jacottet erklärt der Romanist Friedhelm Kemp:  

 

In jeder Begegnung, zwischen dem Menschen und einer Landschaft oder einer einzelnen Naturerscheinung – eine Wiese im Mai, ein Mandelbaumgarten, ein Starenschwarm –, erschliessen Ich und Welt sich füreinander; eines hilft dem andern; es eröffnen sich Perspektiven, Fernblicke, Durchblicke. Grossen Aufwands bedarf es dazu nicht; ein aufmerksamer Blick, geduldiges Hinsehen genügen. Und dann ist jeder dieser Texte, jedes seiner Fragmente für sich eine Lektion: Es wird uns etwas gelehrt, durch Winke, Fragen, Evokation …

 

Der Abbé Vincent sass in Grignan oft an Philippe Jaccottets Tisch. Er war empfänglich für die andeutende Rede der Dichter. Und die Dichter spürten, dass sie ihn erreichten.

 

Es war Gustave Roud, der grösste Lyriker der Westschweiz, der den Abkömmling aus der Waadtländer Bauerngemeinde Savigny auf den römischen Glauben verwies: „Sie haben Sinn für den Symbolismus. Darum sollten Sie sich im Katholizis­mus umsehen!“ Er hatte recht. Das mytholo­gische Bildsystem der vorrefor­matorischen Frömmigkeit ergriff Gilbert Vincent und liess ihn nicht mehr los.

 

Aufgewachsen aber war er in der Kultur der protestantischen Wort­ver­kün­digung. Als Kind fragte Gilbert einmal, was dort drüben für ein Kirchturm sei. Der Grossvater antwortete: „Das sind nicht Leute wie wir. Wir kümmern uns nicht um sie.“ Im Film erklärt der Abbé: „Wenn Sie eine alte Altarbibel aufschlagen, finden Sie häufig den Namen Vincent auf dem Titelblatt. Meine Vorfahren betrieben bis zum Ende des 19. Jahrhunderts eine Druckerei. Hundertfünfzig Jahre lang."

 

Die Familientradition bestimmte nun auch die Berufswahl. Gilbert absolvierte eine Typografenlehre. Er fand den Beruf langweilig. Doch als er zum Korrektor avancierte, faszinierte ihn der Umgang mit der Sprache. Und eines Tages stiess er auf eine Annonce: Fernunterricht fürs französische Baccalauréat. Er packte die Gelegenheit und bereitete sich bis zum Alter von 25 Jahren auf die Maturität vor.

 

In dieser Zeit trat er zum Katholizismus über. Seine Lehrer am Priester­seminar von Lyon gehörten zu den tonangebenden Theologen des zweiten vatikanischen Konzils. Bei ihnen ging ihm die Weite der Glaubenswelt auf.

 

In den „Plans Fixes“ zeigt sich die Offenheit des Abbés daran, dass er Menschen und Situationen mit leuchtenden Umrissen erfasst. Doch wie bei allen Aufnahmen, die Bertil Galland verantwortet, bringt das Gespräch unendlich viele Namen. Der Mann war eben Herausgeber der zwölfbändigen „Encyclo­pédie illustrée du Pays de Vaud“ und aus diesem Grund erpicht auf Quer­verweise und Vollständigkeit – zum Schaden der gefilmten Begegnung.

 

Der Betrachter seufzt: „Diese Menge von Menschen, die ich alle nicht kenne!“ Und der Student fragt: „Muss man die lernen? Kommen sie an der Prüfung vor?“ Aber nein doch, mein Lieber! Ein Mensch ist in seinem Leben wie Gras, er blühet wie eine Blume auf dem Felde; wenn der Wind darüber geht, so ist sie nimmer da, und ihre Stätte kennet sie nicht mehr. Der Wanderer flüstert: „Warte nur, balde / Ruhest du auch.“

 

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