Hélène Grégoire: Von der Erde zur Schriftstellerei.

30. August 1903 – 25. Februar 1998.

 

Aufgenommen am 19. Februar 1989 in Founex.

Hélène Grégoire – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Zwei Jahre nach Hélène Grégoires Tod wurde ihr Nachlass im Centre des littératures en Suisse romande inventarisiert: 35 Schachteln mit Korrespon­denz, persönlichen Dokumenten, Manuskripten, Presseartikeln. Ein gutes Dutzend Romane und Erzählungen hatte ihr einen Ruf als Schrift­­stellerin eingetragen. Dabei hatte sie bis 61 das Leben als Bauerntoch­ter, Backwarenverkäuferin und Wirtin des Café „Monaco“ hinter dem Genfer Bahnhof verbracht. <

 

Die 85-jährige Hélène Grégoire beginnt ihren Lebensbericht für die „Plans Fixes“ mit einer Metapher. Sie sagt, sie sei eine Blume, die der Wind von ihrem Ort weggerissen und tausend Meter weit fortgetragen habe. Im frem­den Erdreich habe sie Wurzeln treiben müssen, um zu überleben. Wie die Erzählung zeigt, ging das nicht ohne Schwierigkeiten. Denn fürs Leben war sie schlecht gerüstet.

 

Auf dem Bauernhof, wo sie aufwuchs, verlangte die Arbeit Kraft. Die fehlte ihr: „Das Melken ging noch. Aber dann mussten wir die Milch zur Sammelstelle bringen. Meine Schwester trug die zwanzig Liter auf dem Rücken wie eine Feder. Ich aber konnte das nicht. Die Familie war mitleidlos: ,Wie willst du dein Brot verdienen, wenn du nicht arbeiten kannst?’“

 

In dieser Not erschien der Prinz; nicht mit der Kutsche zwar, aber mit einem Automobil. Als er von der Strasse aus die junge Frau bemerkte, hielt er den Wagen an und erkundigte sich nach einem Restaurant. Die Bauerntochter, die kein Wirtshaus empfehlen konnte, lud ihn an den Tisch der Familie ein, wie das auf dem Land Sitte war.

 

Der geschniegelte Mann mit seinem exakt sitzenden Krawattenknopf und den feinen Manieren beeindruckte alle. Er wiederholte die Besuche. „Ich war nicht in ihn verliebt“, erzählt Hélène Grégoire. „Aber das Geheimnis der Welt, aus der er kam, faszinierte mich. Als er um meine Hand anhielt, zog ich mit ihm weg und lernte das Leben der Reichen kennen.“

 

Das neue Milieu erwies sich als hart und grausam. „Geld versteinert das Herz“, erklärt Hélène Grégoire. Sie gibt ihrem ersten Ehemann keinen Namen. Nennt auch die Stadt nicht, in der sie lebten. Es gibt zum ganzen Kapitel keine Daten. „Name unbekannt“, schreibt das „historische Lexikon der Schweiz“.

 

Die Dreissigjährige muss sich nach der Scheidung in der Fremde durch­bringen. „Mit dem Werkzeug der Armen: mit den Händen“, erklärt sie. Sie findet Arbeit in einem Café. Oh, nichts Vornehmes. Nur saubermachen. Den Boden aufwischen. Dann kommt sie als Verkäuferin in eine Bäckerei. Ein junger Mann aus ihrem Heimatdorf betritt den Laden. Er hat Bäcker gelernt und sucht jetzt eine Verkäuferin, um ein eigenes Geschäft in Le Havre aufzuziehen. Die Frau, die er geheiratet habe, sei dafür zu schwach.

 

Der neue Laden läuft. Hélène kommt zu Geld. Sie hat den Einfall, Biskuits zu verkaufen, und der Bäcker findet dafür ein so ausgezeichnetes Rezept, dass die beiden eine Fabrik aufziehen können. Doch der Zweite Weltkrieg zwingt sie zur Flucht. Fünf Jahre verbringt die kleine Gemeinschaft in Kanada, dann zieht sie für fünf Jahre weiter in die USA. Hier geht es wirtschaftlich aufwärts.

 

Nun kommt Hélène in die Schweiz. Sie heiratet den Organisten Lucien Grégoire und fällt daraufhin für fünf Jahre in eine Depression. Um sie zu beschäftigen, vermittelt ihr der Gatte Schreibstunden beim Neuenburger Französischlehrer Roger-Louis Junod. Nach ein paar Aufsätzen darf sie das Thema frei wählen. Sie beginnt, ihre Kindheit zu schildern. Die Sätze fliessen ihr aus der Feder. Sie braucht nur dem Strom der Erinnerungen zu folgen. Wenn sie schreibt, lebt sie. Wenn sie nicht schreibt, ist sie tot. „Poignée de terre“ (eine Handvoll Erde) heisst das Manuskript. 1950 ist es vollendet.

 

1960 lässt sich Hélène Grégoire in Genf nieder. Die Tochter vermittelt ihr das Café „Monaco“ hinter dem Bahnhof: „Die glücklichste Zeit meines Lebens, das heisst: meines Berufslebens.“ 1964 erscheint „Poignée de terre“: „Mein Mann und Roger-Louis Junod brachten das Buch heraus, ohne mich zu fragen. Ich hätte nie eingewilligt.“ Doch jetzt ist der Damm gebrochen. Buch um Buch entsteht. Hélène Grégoire macht sich einen Namen.

 

Ihr Stoff ist weitgehend selbsterlebt. Die Autorin bedient sich, schreibt Catherine Dubuis „der ausdrucksstarken Sprache der Kleinbauern ihrer Heimat. Die Texte der Autodidaktin und instinktiven Erzählerin zeichnen sich aus durch Genauigkeit und Leichtigkeit, egal, ob sie über die Begegnung mit ihrem zweiten Mann (,Les Noces de l’été‘ 1975), ihr Exil in Nordamerika (,Les Maudits de Montréal‘ 1982) oder über den Tod ihrer Mutter erzählen (,Moisson d’automne‘ 1990).“

 

Von Hélène Grégoires Werken ist heute keines mehr zu finden, weder in einer Buchhandlung noch in einem Antiquariat. Zugang zu ihrem Nachlass bekommt man „selon le règlement du Centre des littératures en Suisse romande“. Das Reglement ist im Netz nicht nachgewiesen. Aber man kann eine Mail ans Centre schicken.

 

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