Albertine: Künstlerin und Zeichnerin. „Beim Zeichnen taucht man in sich ein.“

1. Dezember 1967 –

 

Aufgenommen am 29. Februar 2024 in Dardagny.

Albertine – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> „Zuerst kam ein Anruf. Ich konnte die Person nicht verstehen. Sie sprach Englisch, und ich dachte, es gehe um ein Kanapee von IKEA. Doch als ich die Mail aufmachte, verstand ich, dass ich den Hans-Christian-Andersen-Preis gewonnen hatte.“ 2020 war das. Damals erhielt die Westschweizer Malerin und Illustratorin Albertine für ihr Gesamtwerk die höchste internationale Auszeichnung für Kinder­literatur. <

 

130 Meter sind es von Albertines Atelier zum Bauernhof, wo sie aufge­wachsen ist. Die Künstlerin sagt, sie brauche eine schützende Umgebung. Das Foto der Grossmutter begleitet sie beim Malen. Albertine hat als Kind angefangen, für sie Bilder zu machen: „Ich bin in meinem Leben nie einer uneigennützigeren Liebe begegnet. Sie hatte Freude an allem, was ich hervorbrachte. Also malte ich, um ihr Freude zu machen.“

 

Im Gespräch mit Patrick Ferla führt Albertine den Betrachter ins Herz ihrer Tätigkeit. Sie will so ehrlich Auskunft geben, wie es geht. Damit entsteht für die „Plans Fixes“ ein echtes, lebendiges Gespräch. Die Fragen bringen die Künstlerin zum Nachdenken, und sie gibt sich preis. Gleichzeitig spiegelt sich auf diese Weise die Zusammenarbeit Albertines mit dem Dichter Germano Zullo, ihrem künstlerischen Partner, Herzens­geliebten und Ehemann.

 

Wenn die beiden eine Geschichte entwickeln, geht es ihnen um nichts anderes, als die Wahrheit einer Situation zu ergründen. Konzentriert, streng und kompromisslos verfolgen sie den Inspirationskern in alle Richtungen, bis aus ihm die Darstellungsweise emporwächst. Die Sache, sagt Albertine, übernimmt die Führung.

 

Sobald ich eine Arbeit anfange, so kommt ein Geist in die Arbeit, und dieser Geist ist mächtiger als ich, und in jede Person kommt ein Leben, und dieses Leben fordert seine Rechte, will auswachsen und nach allen Richtungen sich geltend machen.

 

Was Jeremias Gotthelf im Oktober 1842 an Eduard Fueter schrieb, erfährt jeder Künstler, sobald er den „viffen [lebendigen] Punkt“ (Nestroy) gefunden hat. Albertine macht den Vorgang in der Eingangssequenz nachvollzieh­bar. Sie zeichnet, wie sie mit Germano gemeinsam auf ein Blatt schaut: „Wir sind so vertieft, dass unsere Körper die unmöglichsten Stellungen einnehmen. Ich lege den Arm über den Kopf. Germano streicht sich übers Gesicht. Und plötzlich erkennen wir, worauf das Ganze hinauswill.“

 

Was den beiden widerfährt, hat Sigmund Freud in einem Vortrag beschrieben. Er führte aus, die Dichter versicherten,

 

dass in jedem Menschen ein Dichter stecke und dass der letzte Dichter erst mit dem letzten Menschen sterben werde.

 

Sollten wir die ersten Spuren dichterischer Betätigung nicht schon beim Kinde suchen? Die liebste und intensivste Beschäftigung des Kindes ist das Spiel. Vielleicht dürfen wir sagen: Jedes spielende Kind benimmt sich wie ein Dichter, indem es sich eine eigene Welt erschafft oder, richtiger gesagt, die Dinge seiner Welt in eine neue, ihm gefällige Ordnung versetzt. Es wäre dann unrecht zu meinen, es nehme diese Welt nicht ernst; im Gegenteil, es nimmt sein Spiel sehr ernst, es verwendet grosse Affektbeträge darauf. Der Gegensatz zu Spiel ist nicht Ernst, sondern – Wirklichkeit. Das Kind unterscheidet seine Spielwelt sehr wohl, trotz aller Affektbesetzung, von der Wirklichkeit und lehnt seine imaginierten Objekte und Verhältnisse gerne an greifbare und sichtbare Dinge der wirklichen Welt an.

 

Der Dichter tut nun dasselbe wie das spielende Kind; er erschafft eine Phantasiewelt, die er sehr ernst nimmt, d.h. mit grossen Affektbeträgen ausstattet, während er sie von der Wirklichkeit scharf sondert. Und die Sprache hat diese Verwandtschaft von Kinderspiel und poetischem Schaffen festgehalten, indem sie solche Veranstaltungen des Dichters, welche der Anlehnung an greifbare Objekte bedürfen, welche der Darstellung fähig sind, als Spiele: Lustspiel, Trauerspiel, und die Person, welche sie darstellt, als Schauspieler bezeichnet. Aus der Unwirklichkeit der dichterischen Welt ergeben sich aber sehr wichtige Folgen für die künstlerische Technik, denn vieles, was als real nicht Genuss bereiten könnte, kann dies doch im Spiel der Phantasie, viele an sich eigentlich peinliche Erregungen können für den Hörer und Zuschauer des Dichters zur Quelle der Lust werden.

 

So gesehen erstaunt es nicht, dass Albertine neben Kinderbüchern auch – ungefähr in gleicher Zahl – Erotikbücher malt. Im künstlerischen Charakter der Produktionen liegt das Privileg. Freud: „Ein grosser Dichter darf sich gestatten, schwer verpönte psychologische Wahrheiten wenigstens scherzend zum Ausdruck zu bringen.“

 

Vom Freiraum, den die „Unwirklichkeit der dichterischen Welt“ gewährt, profitierte auch Wilhelm Busch, das unheimliche Doppeltalent von Dichter und Zeichner. Kein Wunder, lag in Sigmund Freuds Wartezimmer an der Berggasse 19 für die Patienten das „Hausalbum von Wilhelm Busch“ auf. Seine Bildgeschichten befriedigen die Lust am Grauen und die Lust am Bösen. Allein „Max und Moritz“ brachte es, mit Übersetzung in dreissig Sprachen und Mundarten, auf eine geschätzte Gesamtauflage von 6 Millionen Exemplaren.

 

Im ersten Streich, wo Witwe Boltes Hühner am Apfelbaum verenden, emp­finden wir Freude am Leiden der Kreatur, mithin Lust an der Grausam­keit. Im vierten Streich, wo Lehrer Lämpel mit schwarzen Verbrennungen an „Nase, Hand, Gesicht und Ohren“ abgemalt ist, regt sich Schaulust am Verstüm­melten. Und im fünften Streich, wo „kritze, kratze“ die Maikäfer aus der Matratze krabbeln, empfinden wir neben der Lust an der panischen Angst des Onkels auch ein Behagen am Gruseligen, das von dünnen, wimmelnden Käferbeinchen ausgeht. – Die Lust am Grauen und die Lust am Bösen verschmelzen zum ambivalenten Happy-End. Für Max und Moritz geht die Geschichte unglücklich aus, für die Gänse und die Dorfgemeinschaft hingegen glücklich.

 

Beim „letzten Streich“ stösst Bauer Mecke in einer Scheune auf die Bösewichte:

 

Hei! Da sieht er voller Freude

Max und Moritz im Getreide.

 

Rabst! – in seinen grossen Sack

Schaufelt er das Lumpenpack.

 

Max und Moritz wird es schwüle,

Denn nun geht es nach der Mühle. –

 

„Meister Müller, he, heran!

Mahl’ er das, so schnell er kann!“

 

„Her damit!“ – Und in den Trichter

Schüttelt er die Bösewichter. –

 

Rickeracke! Rickeracke!

Geht die Mühle mit Geknacke.

 

Hier kann man sie [Max und Moritz] noch erblicken

Fein geschroten und in Stücken.

 

Doch sogleich verzehret sie

Meister Müllers Federvieh.

 

Die zermahlenen Buben, die von zwei dicken Gänsen aufgepickt werden, sind, realistisch genommen, ein Horrorbild. – Dass die Kindergeschichte mit einer solch grausamen Szene „glücklich“ zuendegehen kann, verdankt sie einem dreifachen Übertragungs­mechanismus: 1. Übertragung von der Wirklichkeit in die Poesie, 2. Übertragung von der Poesie ins moralische Exempel („Wie zum Beispiel hier von diesen, / welche Max und Moritz hiessen“), 3. Übertragung vom Ernst in den Humor.

 

Dank dreifacher Transposition kann sich die Lust am Bösen aus­toben, ohne Scha­den zu stiften. Wilhelm Busch umschrieb den Mechanismus mit wenigen Strichen:

 

Der Franzel hinterm Ofen freut sich der Wärme um so mehr, wenn er sieht, wie sich draussen der Hansel in die rötlichen Hände pustet. Zum Gebrauch in der Öffentlichkeit habe ich jedoch nur Phantasiehanseln genommen. Man kann sie auch besser herrichten nach Bedarf und sie eher tun und sagen lassen, was man will.

 

So ein Konturwesen macht sich leicht frei von dem Gesetz der Schwere und kann, besonders wenn es nicht schön ist, viel aushalten, eh’ es uns wehtut. Man sieht die Sach an und schwebt derweil in behaglichem Selbstgefühl über den Leiden der Welt.

 

Durch Evokation der Höllengrüfte schenken uns also Albertine und Germano, Wilhelm und Honoré, Jean-Baptiste und Johann Nepomuk, Wolfgang Amédée und Lorenzo „ein behagliches Selbstgefühl über den Leiden der Welt“.

 

Ja, wahre Kunst ist eben, wie der englische Lyriker und Literaturprofessor Matthew Arnold statuierte, entweder Darstellung oder Kritik des Lebens. Im Fall von Albertine und Germano, Wilhelm und Honoré, Jean-Baptiste und Johann Nepomuk, Wolfgang Amédée und Lorenzo ist sie beides.

 

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