Carl Stammelbach: Lehrer – Von der Schule zum Leben.

ca. 1910 – ca. 1995.

 

Aufgenommen am 24. Juli 1990 in La Fouly.

Carl Stammelbach – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Die Devise „Servir et disparaître“ (dienen und verschwinden) umschreibt Jacques Stammelbachs Schicksal. Das Netz ist nicht imstande, seine Lebensdaten zu liefern. Das Gymnasium in Lausanne, an dem er 16 Jahre unterrichtete, hat seine Daten gelöscht. Das von ihm gegründete „Centre vaudois de recherches pédagogiques“ hat im Lauf von sechzig, siebzig Jahren mehrfach Namen und Organisationsform gewechselt, und heute erinnert sich dort niemand mehr an „diesen Herrn“ (ce monsieur). Carl Stammelbach existiert nur noch in den „Plans Fixes“. <

 

Carl Stammelbachs Studienkollege > Jacques Marcanton hat es zu länger dauerndem Ruhm geschafft. Seine Werke sind noch lieferbar, obwohl sie letztmals vor zwanzig, dreissig, vierzig Jahren gedruckt worden sind. Dass sie nicht, wie die meisten unverkauften Bücher, eingestampft wurden, zeigt, dass der Autor als bedeutend gilt.

 

Mercanton und Stammelbach haben gemeinsam an der Universität Lausanne studiert. Stammelbach war um zwei Jahre der ältere. Nach dem Diplom begeg­neten sie sich wieder im Lehrerzimmer des städtischen Gymnasiums (Gymnase de la Cité). Sie tauschten Bücher und Schallplatten aus. Sie sprachen über den Unterricht. Sie gingen zusammen essen. Sie fuhren für sechs Wochen nach Marokko. Im Atlasgebirge übernachteten sie gemeinsam im Zelt. Aber sie blieben per Sie.

 

1955 wurde Jacques Mercanton Literaturprofessor an der Universität. Carl Stammelbach blieb Gymnasiallehrer. Mercanton freundete sich mit James Joyce und Thomas Mann an. Stammelbach hielt sich in seinem Umgang an die Schüler. „Sie wählten das Zölibat, um sich ungeteilt ihrer pädagogischen Aufgabe widmen zu können“, stellt Bertil Galland fest und versieht den Satz mit einem Fragezeichen. Der Angesprochenen nickt bestätigend. – Auch Mercanton blieb ledig. Die alte „Times“ beendete in solchen Fällen ihre Nach­rufe mit dem Satz: „He never married.“

 

Neben den Gymnasiasten war Professor Mercanton gern in Carl Stammel­bachs Chalet zu Gast. Es befand sich in La Fouly, einem Dorf hinter Orsières in den Walliser Alpen am Ende des Val Ferret auf 1592 m ü. M. Am 24. Juli 1990 wurde vor dem alten, bescheidenen, tiefgebräunten Holzhaus das Gespräch für die „Plans Fixes“ aufgenommen.

 

Bertil Galland erklärt, dass Stammelbach die Schüler durch seinen mitreissenden pädagogischen Einsatz beeindruckt habe, und er zitiert den Lyriker > Philippe Jaccottet. Der erinnerte sich noch nach Jahrzehnten an die Einsichten, die er im Unterricht gewonnen hatte. Stammelbach arbeitete mit Wandbildern, die er erklärte, und mit Schallplatten, durch die er Johann Sebastian Bach an die jungen Menschen heranbrachte. An der Schule ging einem die Welt auf. Es gab noch kein Fernsehen.

 

Um das Umfeld der Zöglinge kennenzulernen, nahm Stammelbach Kontakt mit den Eltern auf. Die Mehrzahl der Kollegen lehnte das Vorgehen zwar ab, doch er liess sich nicht beirren. Er wollte Verständnis schaffen für seine neue, ungewohnte Methode: Gruppenarbeiten, man denke! Das hatte es in Lausanne noch nie gegeben. Auch nicht die neuartige Form der Noten­gebung, deren Ziel es war, die Fähigkeiten der Schüler zu fördern und sie zur Selbständig­keit zu führen.

 

Bei begabten Schülern hält die Dankbarkeit für die grossen Lehrer ein Leben lang an. Roland Donzé, der es, wie Jacques Marcanton, zum Universitäts­professor und Romancier geschafft hatte, notierte mit siebzig: „Was André Tissot an den Rand meiner Aufsätze geschrieben hat: Nicht so grossspurig! Sag’s kürzer! Hier schweifst du ab! Klischee! Diesen Gedanken ausführen!“ Und wie Carl Stammelbach suchte auch André Tissot zuweilen die Eltern auf.

 

Roland Donzé hatte in einem Aufsatz mit dem Titel „Meine Ferien“ das Praktikum bei Photo-Ciné Schudel in Grindelwald beschrieben und damit geschlossen, wie sehr er sich auf die Fotografenlehre freue. Nun klopfte eines Abends André Tissot bei der Familie an und nahm hinterm Küchentisch Platz: Ob das stimme, was da im Aufsatzheft stehe? „Ja, gewiss.“ – „Nein, hören Sie, das ist unmöglich. Roland darf nicht in eine Lehre. Er muss aufs Gymnasium!“ – „Herr Tissot, wir schätzen es, dass Sie sich so für unseren Sohn interessieren. Aber das Gymnasium vermögen wir nicht.“ – „Lassen Sie mich machen!“, bat Tissot.

 

Er brachte ein Eintrittsgespräch mit Rektor Fischer zustande, der nickend die Schulzeugnisse durchblätterte und sich durch Fragen vergewisserte, dass die auf dem Papier ausgewiesenen Qualitäten beim Kandidaten auch wirklich zu finden seien. Dann entschied er: „Aufnahme ,sur dossier‘. Eintritt ins zweite Jahr per Frühling 1937 (Donzés 17. Altersjahr). Zu Beginn des Herbstquartals wird der Stoff des (geschenkten) ersten Lateinjahrs nachgeprüft.“  

 

Ein Jahr nach Donzés Eintritt ins Gymnasium tauchte Tissot ein zweites Mal an der Dufourstrasse auf und fragte, ob er Roland für die Sommerferien in eine Höhle am Doubs mitnehmen dürfe. Sie würden dort nicht allein sein. Tissots Verlobte werde sie begleiten und für sie kochen, während sie ihren Studien obliegen würden. Die Zustimmung war rasch gegeben. Allen leuchtete ein, dass sich billigere und zugleich lehrreichere Ferien für einen Heranwachsenden nicht denken liessen. Dem Vernehmen nach war die Höhle weitläufig und verwinkelt genug, um dem Jungen die Intimität des Paars zu entziehen.

 

Der Vater überzeugte sich davon, indem er Roland in den Jura hinauf­begleitete, mit dem Rad, versteht sich, denn die Bahn hätte zu viel gekostet. Am Abend fuhr Paul zurück nach Biel, es ging abwärts. Mit eigenen Augen hatte er sich vergewissern können, dass die Verhältnisse in der Höhle, wie man damals sagte: anständig waren.

 

Tissot aber enthüllte nun den wahren Zweck des Ferienlagers: „Du benimmst dich ganz unmöglich. Innert eines Jahres hast du es so weit gebracht, dass du alle deine Lehrer gegen dich hast. Und warum? Weil du nicht weisst, wie man sich benimmt. Du hast dich nicht in der Hand. Wenn du am Gymnasium bleiben willst, muss sich das ändern!“

 

Die entscheidende Lektion. Auch Bertil Galland hat sie bekommen. In seinen Erinnerungen schildert er, wie ihn das erstickende Klima der Waadtländer Schule in den 1940er und 50er Jahren dermassen krank machte, dass sich die Mutter für eine Versetzung in Carl Stammelbachs Klasse veranlasst sah. Hier fand der Jugendliche die Lust am Lernen wieder.

 

Im Juli 1947 lud ihn der Lehrer zusammen mit einem anderen Schüler zu einer Reise nach Schweden ein. Zunächst mussten sie das zerstörte Deutschland durchqueren. Galland erinnert sich:

 

Wir fahren in die zerbombten Städte. Es sind Schutthalden. Keine hinterlässt bei mir einen stärkeren Eindruck als Köln, wo wir einen Umweg machen, um zu sehen, ob ein Gebäude, das einem Freund von Stammelbach gehört, noch steht. Aber wir finden dort keine Strassenschilder mehr, und manchmal sind die Strassen selbst verschwun­den, reduziert zu Holperpisten zwischen eingestürzten Mietshäusern. Wo leben die Menschen? Wir sehen Schatten vorbeiziehen, der eine trägt eine alte Tasche, der andere einen Eimer Wasser, wieder ein anderer bleibt vor einem Loch stehen, um darin zu verschwinden.

 

Die 10’000 Kilometer lange Reise zum nördlichsten Punkt des Kontinents wird für Bertil Galland entscheidend:

 

Dieser Aufstieg zum Nordkap zog eine Initiationslinie. Ich bin versucht zu sagen, dass diese Vertikalität mich strukturierte. Mein Streben nach Poesie hatte eine starke Sehnsucht nach Weite hervorgerufen. Plötzlich schien ich zu spüren, wie die Mechanik der Welt überwunden werden könne. 

 

Vier Lehrer. Zwei an der Hochschule: Jacques Marcanton und Roland Donzé. Zwei am Gymnasium: Carl Stammelbach und André Tissot. Die beiden ersten haben es für ein paar Jahrzehnte ins Netz gebracht. Die beiden anderen sind verschollen. Unvergänglich bleibt einzig die Wahrheit des Predigers Salomo:

 

Man gedenkt nicht derer, die zuvor gewesen sind; also auch derer, so hernach kommen, wird man nicht gedenken bei denen, die hernach sein werden.

 

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