5. November 1954 –
Aufgenommen am 10. April 2013 in Montrichier.
Vera Michalski – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)
> Die Aufnahme endet mit Vera Michalskis Bekenntnis: „Von meiner Natur her fühle ich mich nicht sehr zu Philosophie und Religion gezogen.“ Es entsteht eine Pause. Die steinreiche Verlegerin bewegt leicht den Kopf: „Ich weiss nicht ... muss man mit einem Satz schliessen? Dann würde ich sagen: Meine Stiftung in Montricher soll es den Schriftstellern ermöglichen, in Ruhe und Frieden zu arbeiten.“ Mit diesem Fazit lässt sich Vera Michalskis Wirken auf die Formel bringen: Den Begabtesten das Wort geben. Für die anderen da sein. <
Am Ende des ersten Buchs von Charles Dickens riesigem Roman „Klein Dorrit“ (lLittle Dorrit) ereignet sich ein Wunder. Nach über zwanzig Jahren Haft kommt der Schuldgefangene William Dorrit frei. Ein unermessliches, unvermutetes Erbe brachte die Wende:
„Mr. Dorrit, es besteht nicht der geringste Zweifel, dass Sie in wenigen Tagen frei und sehr wohlhabend sein werden.“
Nach der Entlassung verbrachten Vater, Tochter und Sohn die Zeit gemeinsam im besten Hotel der Gegend. In Verbindung mit diesem Etablissement mietete Mr. Tip [der Sohn] ein Cabriolet, ein Pferd und einen Pferdepfleger, ein sehr adrettes Gespann, das gewöhnlich zwei oder drei Stunden am Stück die Borough High Street zierte. Auch ein bescheidener kleiner gemieteter Wagen mit Gespann war dort häufig zu sehen; beim Aussteigen aus und beim Einsteigen in dieses Gefährt schmeichelte Miss Fanny den Töchtern der Umgebung durch die Zurschaustellung unerschwinglicher Hauben.
Auch Vera Michalskis Lebenslauf lässt sich als Reaktion auf ungeheuren ererbten Reichtum auffassen. Sie ist Anteilseignerin am Weltkonzern Roche. Ihre Tante Maja Hoffmann-La Roche hat den Dirigenten Paul Sacher geheiratet. Der Gemahl galt nach der Eheschliessung als reichster Mann der Schweiz und drittreichster Mann der Welt. In der Folge betätigte sich das Paar als Mäzen und erteilte über 250 Kompositionsaufträge an Béla Bartók, Igor Strawinsky, Anton Webern, Wolfgang Rihm, Karlheinz Stockhausen und viele andere mehr. Nach vierzigjähriger Ehe gründeten die beiden 1973 die Paul-Sacher-Stiftung. Sie betreut die Nachlässe von Komponisten und Interpreten wie Igor Strawinsky, Béla Bartók, Anton Webern, György Ligeti, Pierre Boulez oder Heinz Holliger – im ganzen mehr als 120.
Vera Michalski, die Nichte, ist ebenfalls Stiftungsgründerin. Am Fuss des Waadtländer Juras hat sie 2013 die Fondation Jan Michalski pour l'écriture et la littérature durch den Architekten > Vincent Mangeat errichten lassen. In Montricher können Schriftsteller aus aller Welt bis zu einem Jahr arbeiten. Ein Auditorium, ein Café und ein Ausstellungstrakt fördern Begegnung und Austausch. Die Bibliothek umfasst 80'000 Bücher in allen Sprachen. – Bei Eröffnung der Stiftung erhielt Vera Michalski den Ehrendoktor der Universität Lausanne, und im selben Jahr wurde sie ins Westschweizer Filmpantheon der „Plans Fixes“ aufgenommen.
Vera Hoffmanns Erfolgsgeschichte begann damit, dass sie in Genf beim Studieren den polnischen Exilanten Jan Michalski kennenlernte. Die Folge war, dass Vera ihre Dissertation abbrach und mit Jan zusammen einen Verlag gründete, der sich dem Austausch über den Eisernen Vorhang hinweg verschrieb. Als weitere Verlagshäuser dazukamen, fasste das Verlegerpaar im Jahr 2000 seine zehn Unternehmen unter dem Dach der Holding Libella zusammen.
2002 starb Jan im Alter von fünfzig Jahren. Zu seinem Gedenken stiftete Vera den Prix Jan Michalski und die Fondation Jan Michalski. Die Ausrichtung der beiden Unternehmen ist global, das Ziel einheitlich: Förderung der Exzellenz. Auf diese Weise hat Vera Michalski ihren erbten Reichtum dazu verwendet, die Kultur voranzubringen.
Doch so löblich das ist – im Film wirkt die steinreiche Frau trocken, zurückhaltend, und, ja, sprechen wir es aus: langweilig. Sie hat vieles gemacht. Sie hatte Umgang mit vielen wichtigen, interessanten Menschen. Aber vor der Kamera führt sie nur aus, was in Wikipedia zu finden ist. Offensichtlich liegen ihr Religion und Philosophie fern. Die Folge ist, dass Tiefe, Engagement und Substanz ihren Ausführungen abgehen.
Was den philosophischen Kopf ausmacht, hat Arthur Schopenhauer definiert:
Zum Philosophieren sind die zwei ersten Erfordernisse diese: erstlich, dass man den Mut habe, keine Frage auf dem Herzen zu behalten, und zweitens, dass man alles das, was sich von selbst versteht, sich zum deutlichsten Bewusstsein bringe, um es als Problem aufzufassen. Endlich auch muss, um eigentlich zu philosophieren, der Geist wahrhaft müssig sein: er muss keine Zwecke verfolgen und also nicht vom Willen gelenkt werden, sondern sich ungeteilt der Belehrung hingeben, welche die anschauliche Welt und das eigene Bewusstsein ihm erteilt. – Philosophie-Professoren hingegen sind auf ihren persönlichen Nutzen und Vorteil, und was dahin führt, bedacht: da liegt ihr Ernst. Darum sehn sie so viele deutliche Dinge gar nicht, ja kommen nicht ein einziges Mal auch nur über die Probleme der Philosophie zur Besinnung.
Vera Michalski ist heute siebzig. In dem Alter beginnt man die Dinge mit neuen Augen zu sehen. Der Schriftsteller Roland Donzé verglich die Karriere mit einem Tunnel: „Man strebt im Finstern vorwärts, und für die wirklichen Fragen fehlen der weite Horizont und die Musse. Darum sind Jugend und Alter die wahrhaft philosophischen Lebensabschnitte, nicht das Arbeitsleben.“ Orandum est ut sit. Beten wir, dass es so sei …
Und wenn nicht, dann hat Balthasar Gracián das letzte Wort:
Viele scheinen gar gross, bis man sie persönlich kennenlernt: dann aber dient ihr Umgang mehr, die Täuschung zu zerstören, als die Wertschätzung zu erhöhen. Keiner überschreitet die engen Grenzen der Menschheit: alle haben ihr Gebrechen, bald im Kopfe, bald im Herzen. Amt und Würde gibt eine scheinbare Überlegenheit, welche selten von der persönlichen begleitet wird: denn das Schicksal pflegt sich an der Höhe des Amtes durch die Geringfügigkeit der Verdienste zu rächen.