11. Februar 1941 –
Aufgenommen am 15. Juli 1998 in Lausanne.
Yvette Jaggi – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)
> Die Frau mit dem imponierenden Lebenslauf. Yvette Jaggi war Mitglied der Frauenbewegung, Nationalrätin, Ständerätin, Stadtpräsidentin von Lausanne, Präsidentin des schweizerischen Städteverbands, Verwaltungsrätin der SBB, Mitglied des Bankausschusses der Schweizerischen Nationalbank, Präsidentin von Pro Helvetia, Lehrbeauftragte an der ETH Lausanne, Privatdozentin und stellvertretende Professorin an der Universität Lausanne. Als Privatperson blieb sie ledig und konfessionslos. <
Die Frau mit dem imponierenden Lebenslauf empfängt das Kamerateam der „Plans Fixes“ im Haus, das ihr Vater gebaut hat und in dem sie aufgewachsen ist. Es stand anfänglich auf freiem Feld im Bauerndorf Chailly. Heute liegt es in einem Gewirr von Einfamilienhäusern, die mit ihren 9000 Bewohnern das Quartier von Chailly bilden. Zu ihm führen die Buslinien 7 und 42 der Lausanner Verkehrsbetriebe.
Ist es in diesem Zusammenhang ein Zufall, dass Yvette Jaggi für ihre Doktorarbeit an der Universität Lausanne das Thema wählte: „Das Phänomen der Konzentration im Einzelhandelssektor im Zusammenhang mit dem Aufkommen der Massenkonsumgesellschaft“ (Le phénomène de concentration dans le secteur de la distribution en relation avec l'avènement de la société de consommation massive)? – Nach dem Studium arbeitete Yvette Jaggi fünf Jahre für das Warenhaus Innovation in Lausanne, bis es – Phänomen der Konzentration – von Jelmoli geschluckt wurde. Es folgten zwei Jahre bei Coop in Basel.
Der inhärenten Logik ihres Lebenslaufs zufolge kam die Sozialdemokratin danach in die Leitung des Westschweizer Konsumentinnenforums „Fédération romande des consommatrices“. Und an dieser Stelle wiederum war es logisch, dass Yvette Jaggi die Wahl in den Nationalrat schaffte und, nach zwei Legislaturen, als erste Frau des Waadtlands auch in den Ständerat.
Im Gespräch mit Christophe Büchi, ihrem Vetter (darum duzen sich die beiden), erzählt Yvette Jaggi, dass sie am liebsten Bäuerin geworden wäre. Als Kind hatte sie sich in der Landwirtschaft bewegt. Der Vater stammte aus einem Bauern-, die Mutter aus einem Winzergeschlecht. Das Mädchen verbrachte die Schulferien auf dem Hof der Grosseltern, dazu auch die Heu-, die Kartoffel- und die Ernteferien. Im Gegensatz zum Lebensmittelmangel während der Kriegs- und frühen Nachkriegszeit herrschte am Tisch der Landarbeiter eine geradezu paradiesische Opulenz.
Am Ende gab es keinen Hof zu erben. Yvette Jaggis Eltern standen an 13. und 14. Stelle ihrer kinderreichen Familien. So blieb das Bauernwesen für die junge Frau ein Traum. Doch ist es verwunderlich, dass sie als sozialdemokratische Abgeordnete im Bundeshaus die bei den Genossinnen und Genossen nicht eben beliebte Domäne der Agrarpolitik bewirtschaftete?
Konsequenterweise bildet sie das „Historische Lexikon der Schweiz“ vor einer überwältigenden Landschaft ab. Als Präsidentin der Stiftung Pro Helvetia steht Yvette Jaggi vor dem mittleren Gemälde von Giovanni Giacomettis Triptychon „Panorama von Flims“ aus dem Jahr 1904.
Die Freiheit des Lebens in der Natur, die Yvette Jaggi bei den Pfadfindern wiederfand, kontrastierte zur Unbeweglichkeit der Mutter, die wegen eines chronischen Rückenleidens ans Bett gebunden war. Die Tochter, ein scheues Einzelkind, übernahm die intimen Bereiche der Pflege und erlebte dabei die befreiende Kraft des Frohsinns, den die Mutter ausstrahlte. Die Invalide wurde von zahlreichen Menschen besucht. Sie kamen, um Mitleid zu bekunden, und gingen wider Erwarten aufgerichtet, froh und beschwingt vom Krankenbett weg.
Dieselbe Erfahrung hat den jungen Wiener Nervenarzt Viktor E. Frankl in den 1930er Jahren dazu geführt, eine neue Richtung der Psychiatrie zu entwickeln. Er nannte sie Heilung durch Sinn: Logotherapie.
Tätig geben wir dem Leben Sinn, aber auch liebend – und schliesslich: leidend. Denn wie ein Mensch zu der Einschränkung seiner Lebensmöglichkeiten, soweit sie eben sein Handeln und sein Leben betreffen, Stellung nimmt, wie er sich zu dieser Einschränkung verhält – wie er sein Leiden unter solcher Einschränkung auf sich nimmt, also sein Kreuz auf sich nimmt, in all dem vermag er noch Werte zu verwirklichen.
Wie wir uns also Schwierigkeiten gegenüber einstellen – darin noch zeigt sich, wer man ist, und auch damit lässt sich das Leben sinnvoll erfüllen. Vergessen wir auch nicht den Geist des Sports – diesen eigentlich so recht menschlichen Geist! Was tut der Sportler anderes, als sich Schwierigkeiten nachgerade schaffen, um an ihnen zu wachsen?
Das Schicksal, das also, was uns widerfährt, lässt sich demnach auf jeden Fall gestalten – so oder so. „Es gibt keine Lage, die sich nicht veredeln liesse, entweder durch Leisten oder durch Dulden“, sagt Goethe. Entweder wir ändern das Schicksal – sofern dies möglich ist –, oder wir nehmen es willig auf uns – sofern dies nötig ist.
Aus alledem folgt: Immer bietet das Leben eine Möglichkeit zur Sinnerfüllung; man könnte auch sagen, das menschliche Dasein lässt sich „bis zum letzten Atemzug“ sinnvoll gestalten – solange der Mensch atmet, solange er überhaupt noch bei Bewusstsein ist, trägt er Verantwortung für die jeweilige Beantwortung der Lebens-Fragen. Was wir „ausstrahlen“ in die Welt, die „Wellen“, die von unserem Sein ausgehen – das ist es, was von uns bleiben wird, wenn unser Sein selbst längst dahingegangen ist.
Ist es in diesem Zusammenhang verwunderlich, wenn Yvette Jaggi als Ziel ihrer Tätigkeit als Stadtpräsidentin die Verbesserung der Atmosphäre in Lausanne nennt? Wer die Stadt betritt, soll sich in ihr wohlfühlen können, frei atmen, Freundlichkeit erfahren und Freundlichkeit weitergeben. Das soll von uns bleiben, wenn unser Sein selbst längst dahingegangen ist.
Yvette Jaggi lebt noch im Haus, das ihr Vater errichtet hat. Sie ist 83. Zur ihr führt die Buslinie 7. Von der Station Chailly-Village aus ist eine Fussstrecke von 400 m zurückzulegen.