25. Oktober 1908 – 17. April 2004.
Aufgenommen am 25. Juni 1990 in Liddes.
Edmond Pidoux – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)
> Die Begegnung mit Edmond Pidoux – festgehalten vor 35 Jahren – gehört zu den zehn schönsten im Sortiment der „Plans Fixes“. Der 81-Jährige macht durch seinen Enthusiasmus, seine Aufrichtigkeit und seine Zartheit den Betrachter zum Beteiligten. Er hat so viel zu sagen! Und alles ist wesentlich, persönlich, selbsterfahren, selbstgedacht. Der alte Film hat die Funktion einer Oase, in der wir uns von der Wüste der Banalität erholen können. <
Die Begegnung mit Edmond Pidoux entsteht in den Walliser Alpen. Vor seinem braunen Chalet ist es so still, dass man das Rattern der Filmkamera vernimmt. Ein Düsenflugzeug durchkreuzt den Himmel. Aber die Aufnahme wird nicht unterbrochen – gemäss dem Konzept der „Plans Fixes“: „Keine Wiederholungen, keine Schnitte“.
Das Gespräch mit dem lebenssprühenden Achtziger, der 95 Jahre erreichen wird, führt der 75-jährige Samuel Dubuis. Er trägt im Vorspann die Bezeichnung Pfarrer (pasteur) vor sich her wie einen akademischen Titel. In seinen wenigen Interventionen wirkt er zwar gutartig, aber auch, wie es sein Beruf mit sich bringt, etwas unbeholfen und pfarrherrlich-steif.
Ein Jahr nach der Aufnahme wird er in einem Alterspflegeheim leben:
Der Rückzug kann eine Gelegenheit sein, unser inneres Wesen wiederzufinden. Ich bin in eine Zeit der Vertiefung getreten. Ich habe alle Zeit der Welt, um die Gedanken und Gefühle auszuloten, die in mir aufkommen.
Oft hat man, weil man so viel über Gott spricht, ihn selbst ein wenig aus den Augen verloren. Jetzt gibt es nichts mehr, was mich von ihm ablenkt. Die Beziehung zu Gott ist das einzige, was bleibt, wenn man alles verloren hat und sich dem undurchsichtigen Geheimnis des Todes gegenübersieht. Angesichts des drohenden Niedergangs entdecke ich die menschliche Freundlichkeit des Pflegepersonals, ich entdecke die Liebe im Tun. Und ich entdecke hier, im Alterspflegeheim, den unauslöschlichen Wert eines jeden Menschen, unabhängig von seinem Verfallszustand.
Während Pfarrer Samuel Dubuis leise und unauffällig die Welt verlässt, ist das Ableben von Edmond Pidoux nicht nur den Westschweizer Medien, sondern auch der „Neuen Zürcher Zeitung“, ja sogar dem Wiener „Standard“ eine Meldung wert. Er hat sich als Schriftsteller, Lyriker und Dramatiker einen Namen gemacht. Und als Ehrenmitglied der SAC-Sektion Diablerets kennen ihn auch die Bergfreunde:
Als begnadetem Alpinisten gelang ihm 1928 die Erstbesteigung des Matterhorns über den Zmuttgrat. Etwas später unternahm er eine Serie von grossen Besteigungen der Viertausender rund um Zinal.
Unter seinen vielseitigen Aktivitäten ist sein Engagement als französischsprachiger Redaktor für die SAC-Clubzeitschrift „Die Alpen“ zu erwähnen. Er nahm diese Aufgabe von 1956 bis 1962 mit hoher Kompetenz wahr.
Edmond Pidoux umreisst die Faszination des Bergsteigens im Gespräch mit Samuel Dubuis auf eine Weise, wie sie nur einem Menschen gelingen kann, der sein Leben als Dramatiker, Lyriker, Schriftsteller, Lehrer und Alpinist verbracht hat: „Das Urteil der Natur ist klar und ehrlich. Beim Bergsteigen schafft man’s, oder man schafft es nicht. Diese Objektivität befreit uns aus der Abhängigkeit davon, was die anderen von uns halten.“
In der Natur wirkt das Gesetz der Kausalität. In ihr erfährt man Schopenhauers „Satz vom zureichenden Grunde“, der besagt: „Nichts ist ohne Grund, warum es sei“. Das bedeutet: „Die Gestalt eines jeden Berges wurde geschaffen durch reinste Notwendigkeit. Um sie zu erfassen, genügt es nicht, ein Massiv anzuschauen. Denn es ist dreidimensional.“ Als alter Pädagoge wechselt Edmond Pidoux nun ins sokratische Lehrgespräch: „Wie erfasst man eine Skulptur?“ Samuel Dubuis: „Man geht um sie herum.“ „Das ist nicht ausreichend“, entgegnet Edmond Pidoux. „Um eine Skulptur zu erfassen, muss man sie umgreifen. Das bedeutet: Erst, wenn man sich am Berg bewegt, erfährt man seinen Charakter. Besonders intensiv ist das Erlebnis beim Übergang – beim Übergang von der Ebene zum Aufstieg, und beim Übergang vom Abstieg zur Ebene. Da wechseln jedesmal die Temperatur, die Luft, der Klang, der Geruch ...“ Während Edmond Pidoux von diesen Erfahrungen spricht, rufen das Leuchten in seinem Gesicht und der Jubel in seiner Stimme eine Resonanz im Betrachter hervor: „Man teilt das Erkannte durch die Sprache mit und gibt es auf diese Weise weiter.“
Mit gleicher Anschaulichkeit ruft der lebenssprühende Achtziger seine Kinderjahre in Belgien empor. Der Vater predigte den geschundenen Kohlearbeitern in der „schwarzen Provinz“ (la Belgique noire) das Evangelium. Durch ihn wurden Edmond Pidoux und seine Geschwister (darunter der spätere Kirchenmusiker, Musikwissenschafter und Pfarrer Pierre Pidoux) zu Mitleid, Respekt und Liebe erzogen. Auf dieser Grundlage entstanden vier Jahrzehnte später Bücher über Afrika, von denen die Einheimischen sagten: „Sie haben uns verstanden.“
Die Schulzeit in Belgien und in der Schweiz. Wo liegt der Unterschied? „In Belgien lernte man, sich formvollendet auszudrücken. Der Inhalt wurde einem von oben eingetrichtert. Jesuitische Methode. In der Schweiz hingegen musste man den Inhalt aus sich selber ziehen (falls man ihn fand). Doch wenn es darum ging, die Gedanken in Sprache zu fassen, war man meistens recht hilflos.“
Edmond Pidoux fand die Kälte und Unnahbarkeit seiner belgischen Lehrer furchtbar. Aus diesem Grund verbrachte er – als er später in Morges selbst zu unterrichten begann – die Pausen zusammen mit den Schülern und spielte mit ihnen (Einfluss des Vaters, der sich als „Animateur“ verstand). Zeitlebens suchte Edmond Pidoux die menschliche Verbindung, gerade, weil er sie im Elternhaus nicht in genügendem Mass erhalten hatte. Sein jüngerer Bruder und er hatten sich in der Jugendzeit mit Plüschbären getröstet, die sie Joseph, René, Charlot und Myrtille nannten:
Was waren diese Bären? Nun, Projektionen von uns selbst. Ihnen konnten wir unsere Zärtlichkeit schenken. Wir überschwemmten sie mit unserer Liebe. Sagen Sie nicht, es gebe nur mütterliche Liebe. Es gibt auch väterliche Liebe! Ich erinnere mich an eine Regennacht, in der ich Höllenqualen litt, weil ich meine Bären im Garten vergessen hatte.
Als ich 16 Jahre alt war und meine jüngste Schwester zur Welt kam, wurde der Hebamme mein Bett angewiesen, um sich auszuruhen. Sie schlug die Decke zurück, entdeckte all meine Bären und begann so zu lachen, dass ich mich in Grund und Boden schämte und mich von ihnen trennte.
Aufrichtigkeit, Enthusiasmus, Zartheit.
Die Begegnung mit Edmond Pidoux gehört zu den zehn schönsten im Sortiment der „Plans Fixes“.