Tibor Varga: Violonist.

4. Juli 1921 – 4. September 2003.

 

Aufgenommen am 23. Mai 1991 in Grimisuat.

Tibor Varga – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Zwischen 1964 und 2001 war es während der Sommermonate nicht möglich, dem Festival Tibor Varga zu entgehen. Die namhaftesten Künstler traten dort auf. Ihre Konzerte wurden von Radio Suisse Romande aufgenommen und von den Kultursendern aller Kontinente ausgestrahlt. Tibor Varga war eine Marke. Das belegt auch das Gespräch mit ihm in den „Plans Fixes“. <

 

Ohne je zu verlangsamen, spricht Tibor Varga 51 Minuten lang über sich, seine Auffassung von Musik, sein Festival und seine Kollegen. „Presto“ würde dazu in einer Partitur stehen, wenn nicht gar „Prestissimo“. Ist ein Kapitel abgehandelt, wird die schwarz-weisse 16 mm-Filmspule gewechselt. Dann fährt der weltberühmte Künstler mit unvermindertem Tempo fort. Er hat so viel zu sagen, dass sich die Worte überhaspeln.

 

Die begrenzte Länge des Porträts zwingt ihn zur Raffung. Ein, zwei Sätze pro Gedanke. Dann kommt schon der nächste. Die Kunst und das Leben waren zu reich. Darum bewegen sich jetzt die Ausführungen am Rand des Aphorismus. Oft muss ein Name genügen: Arnold Schönberg, Ferenc Fricsay, David Oistrach. Den Kennern läuft ein Schauer über den Rücken.

 

Wäre der Film ein Aufsatz, müsste der Lehrer an den Rand schreiben: „Trefflich. Aber breiter ausführen!“ Doch dafür reicht die Zeit nicht. Die Aufnahme soll ja die ganze Breite eines intensiven, sieben vollgerüttelte Jahrzehnte umfassenden Künstlerlebens umreissen. Aus diesem Grund sind „celeritas“ und „brevitas“ (Geschwindigkeit und Kürze) unvermeidlich. – Während des Sprechens wirft der Befragte immer wieder einen Blick zu einer ungenannten Person ausserhalb des Kamerawinkels: „Bist du zufrieden? Habe ich’s gut gesagt? “

 

Mit zwei Jahren lernte Tibor Varga das Violinspiel. Mit sechs hatte er seinen ersten öffentlichen Auftritt. Mit zehn trug er Mendelssohns Violinkonzert op. 64 vor. Mit 13 machte er die erste Aufnahme. Mit 14 begann er, durch die Welt zu touren. Mit 24 wurde er bei einer Fahrt durch Wien eingeladen, das Violinkonzert von Alban Berg zur österreichischen Erstaufführung zu bringen. Tibor Varga:

 

Der Name des Komponisten verdiente es, geehrt zu werden. Ich kannte das Werk nicht und hatte nur eine Nacht, um das Konzert auswendigzulernen. Am nächsten Tag war die Aufführung. Es war wunderbar.

 

1949 brachte der 28-Jährige Schönbergs Violinkonzert zur europäischen Erstaufführung. Darauf schrieb der Komponist:

 

Es klingt wirklich so, als ob Sie das Stück schon 25 Jahre kennen würden, so reif, so ausdrucksvoll, so wohlgestaltet ist Ihre Wiedergabe. Ich muss sagen, dass ich noch nie eine so gute Aufführung kennen gelernt habe, bei welcher ich nicht an jedem Detail mitgeholfen hatte (…) Ich danke Ihnen sehr für dieses Erlebnis, und ich wollte, ich wäre jünger, um Ihnen mehr Material dieser Art zu verschaffen.

 

Für die Filmaufnahme stellt Lucie Desarzens die Fragen. Sie ist die Ehefrau des Dirigenten > Victor Desarzens, Gründer des Orchestre de Chambre de Lausanne. Und gleich zielt sie ins Zentrum: „Maître Varga, die Musik, der Sie Ihr Leben gewidmet haben, können Sie sie definieren?“ Der Angesprochene beugt sich vor und richtet den Blick zu Boden, um sich zu konzentrieren:

 

Eine globale Antwort ist schwierig. Für mich ist die Musik eine Muttersprache. Wenn ein Säugling schreit und die Mutter antwortet: „Ich komme gleich!“, reagiert das eine Kind nicht. Das andere beginnt zu lächeln. Das dritte hört erst auf zu schreien, wenn es das Gesicht der Mutter sieht.

 

Tibor Varga war das Kind, das lächelte, als es die Stimme der Mutter – und das heisst in seinem Fall: die Stimme der Musik – vernahm. Am 4. Juli 1921 kam er zur Welt als Sohn eines Violinisten, der wegen einer Kriegsverletzung das Spielen aufgegeben hatte und Geigenbauer geworden war. Aber das Entscheidendste war:

 

Ich hatte eine glückliche Kindheit. Vater und Mutter waren nur zwanzig Jahre älter als ich. Mit ihnen hatte ich als Einzelkind einen intensiven, liebevollen Austausch. Wir lebten zu dritt in Györ, einer mittelgrossen ungarischen Stadt mit 50 000 Einwohnern. Aber stellen Sie sich vor: Damals gab es, allein in unserer Strasse, sieben Streichquartettformationen, alles Liebhaber! Weil oft jemand fehlte, musste ich dauernd einspringen und mal den Part der ersten Geige übernehmen, mal den Part der zweiten oder der Bratsche. So wuchs ich in die Musik hinein.

 

Freilich gibt es einen Unterschied zwischen guter und schlechter Musik. Tibor Varga erklärt ihn am Beispiel des Lichts:

 

Licht wird erst sichtbar, wenn es auf ein Objekt trifft. Viele fuchteln herum und lassen den Strahl ungeregelt über die Dinge gleiten. Andere aber lenken ihn so, dass er etwas Bedeutendes hervorhebt. Die grossen Komponisten stellen die grossen Wahrheiten ins Licht, die sie erkannt haben. Für mich gleichen ihre Partituren geographischen Karten. Sie bilden ein geistiges Universum ab. Doch die meisten Menschen können es nur wahrnehmen, wenn die geschriebenen Töne aufgeführt werden.

 

Wir Interpreten machen dieses Gedachte erkennbar. Dabei gleichen wir Ferngläsern. Man nimmt ein Teleskop vors Auge, um etwas Entferntes wahrzunehmen. Aber nicht alle Instrumente sind gleich gut. Es gibt welche, die sind verschmiert oder angelaufen. Andere verzerren die Proportionen. Weitere zielen in die falsche Richtung. Doch ein paar wertvolle bringen die Landschaft naturgetreu und unverzerrt vor die Sinne.

 

Die Landschaft des Wallis, in die Tibor Varga nur geführt worden war, weil ein Londoner Arzt gesagt hatte, ihr Klima sei der Gesundheit des Sohnes zuträglich, wurde mit der Zeit zu seiner Heimat. Es ging ihm wie dem Komponisten > Jean Daetwyler: Als er in Siders aus dem Zug stieg, umfing ihn das Unterwallis mit all seinen Reizen. Überwältigend war schon der Anblick der Schirmpinien auf dem Bahnhofplatz. Dazu kam die strahlende Sonne, nicht getrübt durch Industriedunst wie in Paris, und darüber wölbte sich ein klarer blauer Himmel, nicht ein milchig grau verhangener. Jean Daetwyler betrat das Paradies.

 

Gleich erlebte es Tibor Varga. Die unverstellte Herzlichkeit des Menschenschlags nahm ihn ein, zusammen mit der leuchtenden Landschaft der Gipfel, der Bergtäler und der Rhoneebene („den Fendant und die wunderbaren Früchte nicht zu vergessen“). – Nach einem Konzert trat ein Bub auf ihn zu: „Herr Varga, wir wissen alle, dass Sie ein Walliser sind. Aber warum haben Sie nicht unseren Akzent?“ Der Angesprochene lächelte: „Das kann noch kommen.“

 

Zehn Jahre später starb Tibor Varga im Alter von 82 Jahren zuhause in Grimisuat, dem Aufnahmeort des „Plans Fixes“-Porträts.

 

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