René Spahr: Das 20. Jahrhundert im Wallis.

2. März 1905 – 9. März 2001.

 

Aufgenommen am 23. November 1998 in Sitten.

René Spahr – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Das Porträt, das die „Plans Fixes“ vor 27 Jahren mit dem 93-jährigen René Spahr drehten, führt in die Tiefe der Zeit. Vor 102 Jahren machte er in Einsiedeln die Matur. Geboren wurde er vor 120 Jahren in Sitten. Damals brachten die Bauern noch zu Fuss ihre Kühe zum Markt. Wer von Evolène herunterkam, brauchte sechs Stunden. Fünfhundert Maultiere gab es damals im Kanton. Zum Zeitpunkt der Aufnahme keines mehr. Auch sonst hat sich viel verändert. <

 

Einzweidrei, im Sauseschritt

Läuft die Zeit; wir laufen mit.

 

Wenn die Oberwalliser die Eidgenossenschaft als „äussere Schweiz“ bezeichnen, so liegen die Gründe dafür in der Geschichte. René Spahr führt die Eigentümlichkeiten seines Kantons ins Jahr 999 zurück. Damals übergab König Rudolf III. von Burgund die Grafschaft Wallis an den Bischof von Sitten. Er wurde das geistliche und weltliche Oberhaupt. Achthundert Jahre lang blieb das Gebiet abgeschottet. Die Schweiz lag „im Äusseren“. Dann erfolgte der Einmarsch der Franzosen. 1810 schlug Napoleon das Wallis als Departement Simplon zum französischen Kaiserreich.

 

Nach dem Wiener Kongress trat das Wallis 1815 der Eidgenossenschaft bei, als 22. Kanton. Doch bei den Abstimmungen von 1848 und 1874 lehnte es die schweizerische Bundesverfassung ab. 1848 stimmten 4’171 Walliser gegen die Verfassung und 2’751 dafür. Die Teilrevision von 1874 wurde mit 19’368 Nein-Stimmen gegenüber 3’558 Ja-Stimmen abgelehnt. So betrachtet kann man sagen, das Wallis habe die Staatsform der Eidgenossenschaft nie akzeptiert, sondern sei zu ihr gezwungen worden.

 

Wie es mit der Geschichte im 20. Jahrhunderts weiterging, hat René Spahr erlebt. Seine Familie gehörte zu den burgerlichen Geschlechtern von Sitten. Der Vater, Landwirt, wirkte als Lehrer an der Landwirtschaftsschule Ecône. Disziplin und Autorität prägten das Leben in Schule und Familie. Vater und Mutter wurden geehrt – und gesiezt.

 

Eingeschult wurde René Spahr bei der Marienbruderschaft (Frères Marie). Dann kam er ins Collège von Sitten. Es gab damals im Kanton nur drei Mittelschulen: in Brig, Sitten und Saint-Maurice. Die Jahrgangsstufen trugen Bezeichnungen, die den Bildungsstand angaben: Principe, rudiment, grammaire, syntaxe, humanité, rhétorique, philosophie et physique.

 

Für seine beiden letzten Jahre wechselte René Spahr ans Kollegium Einsiedeln. Verschiedene begabte Jungen absolvierte damals das sogenannte Deutschschweizer Jahr, etwa der spätere Regierungsstatthalter > Charles Munier, der Schriftsteller und Zimmerbuchhändler > Hughes Richard oder der spätere Ständeratspräsident > Charles-Frédéric Fauquex, der das Maturitätszeugnis in Burgdorf erwarb.

  

1923 bestand René Spahr in Einsiedeln zusammen mit 41 Kameraden die Matur. 21 wandten sich der Theologie zu. Derweil machten an den drei Mittelschulen des Wallis 23 Schüler die Matur. 1998, zum Zeitpunkt der Filmaufnahme, waren es 650. Heute 1’234.

 

Einzweidrei, im Sauseschritt

Läuft die Zeit; wir laufen mit.

 

1923 begann René Spahr, in Bern Jus zu studieren. Nach zwei Semestern wechselte er nach Lausanne. Dort hatte er drei türkische Kollegen. Sie lernten das Schweizer Rechtssystem kennen. Kemal Atatürk hatte der Türkei nach der Konferenz von Lausanne 1923 das Schweizer Zivilgesetzbuch vorgeschrieben, um das Regime der Ayatollahs zu brechen.

 

1925 machte René Spahr das Notariatspatent, 1928 das Advokaturpatent. Von 1933 bis 1941 war er freisinniger Walliser Grossrat, dann – bis zur Erreichung der Altersgrenze 1970 – Walliser Kantonsrichter. Unter den fünf Magistraten war Spahr der einzige, der einen Fahrausweis hatte. Wenn die Behörde eine Begehung vorzunehmen hatte, verschob sie sich zu Fuss.

 

Ein Jahr nach Spahrs Eintritt ins Kantonsgericht übernahm das Wallis 1942 das Schweizer Strafrecht, welches die Todesstrafe landesweit abschaffte. Das Wallis hatte sie freilich seit sechzig Jahren nicht mehr vollzogen, im Unterschied zum Kanton Obwalden, wo noch 1940 eine Hinrichtung stattfand.

 

Militärisch war René Spahr als Regimentsadjudant bei der Gebirgsinfanterie eingeteilt. Als am 10. Mai 1940 die deutsche Wehrmacht in Frankreich und Belgien einmarschierte, vernahm er auf dem Weg zur Truppe von einem Bekannten, das Radio habe um 715 Uhr gemeldet, der Bundesrat werde die allgemeine Kriegsmobilmachung verfügen. Der Regimentskommandant wusste nichts davon und telefonierte ins Bundeshaus. Dort nahm der Hauswart ab: Er könne nicht weiterhelfen. Niemand sei da: „Heute putzen wir die Fenster.“

 

Von 1944 bis1979 stand René Spahr der Fédération valaisanne des Sociétés de secours mutuels vor, aus der 1951 die Krankenkasse Mutuelle valaisanne hervorging. Er erinnert sich, dass die Mitgliederprämie bis 1925 6 Franken im Jahr betrug. Dann stieg sie auf 8 Franken.

 

„Und heute sind Sie immer noch so gut in Form!“, rühmt der Gesprächsleiter Jean-Bernard Desfayes. „Ich hatte zum Glück eine gute Gesundheit und einen schönen Familienrahmen“, entgegnet der 93-Jährige. „Meine gleichaltrige Frau und ich verstehen uns gut. Und die Kinder, Grosskinder und Urgrosskinder binden uns ans Leben. Mit ihnen vollziehen wir die Entwicklung der Zeit.“

 

Am 9. März 2001 starb René Specht im Alter von 96 Jahren.

 

„Der beste jüdische Witz“, rief Teddy Podgorski, die 85-jährige ORF-Legende, 2020 in Günter Kaindlstorfers Radiomikrofon; „hören Sie: Zwei alte Rabbiner gehen in Budapest über die alte Kettenbrücke. Sagt der eine zum andern: ,Jedes Mal, wenn ich diese Brücke sehe, erkenne ich darin das Leben.‘ Sagt der andere: ,So ein Unsinn! Was kann denn eine alte Kettenbrücke über das Leben sagen?‘ – ,Woassi?‘ [Weiss ich’s?]“

 

„Woassi?“ lautet auch die Antwort Anton Tschechows. Drei Wochen vor dem Tod schreibt er: „Du fragst mich: Was ist das Leben? Du könntest mich ebensogut fragen, was eine Karotte sei. Eine Karotte ist eine Karotte. Mehr weiss man nicht davon.“

 

Einzweidrei, im Sauseschritt

Läuft die Zeit; wir laufen mit.

 

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