Jean-Luc Chollet: Der Bauer und die Stadt.

21. April 1949 –

Aufgenommen am 15. Juni 2024 in Lausanne.

Jean-Luc Chollet – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Nach Zürich, Genf und Basel ist Lausanne die viertgrösste Gemeinde der Schweiz. Unter ihren 144'160 Einwohnern lebt ein einziger Bauer: Jean-Luc Chollet. Als Pächter bewirtschaftete er, wie bereits sein Vater, das das letzte Bauerngut der Stadt. Sie erwarb es 1980 von der Familie Fallot, die zur Peugeot-Dynastie gehörte, und stellte es unter Schutz. <

 

Im Bernbiet liegt mancher schöne Hof, mancher reiche Bauernort, und auf den Höfen wohnt manch würdiges Ehepaar, in echter Gottesfurcht und tüchtiger Kinderzucht weithin berühmt, und ein Reichtum liegt da aufgespeichert in Spycher und Kammer, von welchem die luftige neumodische Welt, welche alles zu Geld macht, weil sie viel Geld braucht, keinen Begriff hat. Bei allem diesem Vorrat liegt eine Summe Geld im Hause für eigene und fremde Notfälle, die in manchem Herrenhause jahraus jahrein nicht zu finden wäre. Diese Summe hat sehr oft keine bleibende Stätte. Wie eine Art von Hausgeist, aber keine böse, wandert sie im Hause herum, ist bald hier, bald dort, bald allenthalben, bald im Keller, bald im Spycher, bald im Stübchen, bald im Schnitztrog und manchmal an allen vier Orten zu gleicher Zeit und noch an ein halb Dutzend andern. Wenn ein Stück Land feil wird, das zum Hofe sich schickt, so wird es gekauft und bar bezahlt. Vater und Grossvater sind auch nie einem Menschen etwas schuldig geblieben, und was sie kauften, zahlten sie bar und zwar mit eigenem Gelde. Und wenn in der Verwandtschaft oder in der Freundschaft und in der Gemeinde ein braver Mann in Geldverlegenheit war oder einen Schick zu machen wusste, so wanderte dieses Geld hierhin und dorthin, und zwar nicht als eine Anwendung [Investition], sondern als augenblickliche Aushülfe auf unbestimmte Zeit, und zwar ohne Schrift und Zins, auf Treu und Glauben hin und auf die himmlische Rechnung, und war eben deswegen so, weil sie noch an ein Jenseits glaubten, wie recht ist.

 

1843 erschien Jeremias Gotthelfs Roman „Geld und Geist“. Darin beschrieb der Emmentaler Dichterpfarrer den Charakter eines Bauerntums, „von welchem die luftige neumodische Welt keinen Begriff hat“. Im Film über Jean-Luc Chollet aus dem Jahr 2024 kann man ihm wiederbegegnen; und was dem Betrachter entgegenkommt, ist nicht Fiktion, sondern Realität. Der frühere Bauer umreisst die Entwicklung seines Standes und seines Lebens offen, engagiert und lebensvoll.

 

Wie bei Gotthelf liegt auch bei Chollet der Akzent nicht auf dem „Geld“, sondern auf dem „Geist“: „Es gibt Bauern, die können nicht schlafen, wenn sie nicht zwei Millionen Schulden haben. Ich dagegen konnte nicht schlafen, solange ich aufgenommenes Geld nicht zurückgezahlt hatte.“ Der Grund: „Als Pächter konnte ich nicht Haus und Hof als Sicherheit einsetzen. Darum musste ich genauer rechnen.“ So kam es, dass Jean-Luc Chollet nach der Maxime des ehrbaren Bauern bei Gotthelf lebte: „Vater und Grossvater sind nie einem Menschen etwas schuldig geblieben.“

 

Da man im Bauernstand genau wirtschaften muss, wenn das Gut nicht, wie Gotthelf sagte, „verhudlet“ werden soll, liegt es nahe, dass die deutsche Sprache das Wort „Agrikultur“ mit „Landwirtschaft“ übersetzt. Sie trägt damit der Tatsache Rechnung, dass es hier, wie bei jedem anderen Unternehmen, ums „Wirtschaften“ geht. Das Geld wandert in die verschiedensten Bereiche, „bald hier, bald dort, bald allenthalben“. Nicht erstaunlich, hiess die Landwirtschaft bis vor zweihundert Jahren noch „Ökonomie“, und der Bauer hiess „Ökonom“.

 

„Noah aber fing an und ward ein Ackermann“ (1. Mose 9, 20). Doch gleichgültig, ob Ackermann, Ökonom, Landwirt, oder Bauer – immer geht es darum, aus der Bearbeitung des Bodens Nahrung zu gewinnen; zunächst für sich und die Familie, dann für alle, die helfen, und schliesslich für die Bevölkerung ganz allgemein, erklärt Jean-Luc Chollet.

 

Gleich sieht es der Brockhaus von 1838:

 

Die Landwirtschaft ist unstreitig dasjenige Gewerbe, welches der Wohlfahrt eines jeden Volks zu Grunde liegt, weil es für die ersten und notwendigsten Bedürfnisse des Menschen sorgt und auch zur Betreibung der meisten übrigen Gewerbe das Material herbeischafft. Daher erfordert dieses Gewerbe auch eine vorzügliche Pflege und Aufmerksamkeit, welche ihm lange Zeit nicht zuteil geworden ist, weil man den Stand des Ackerbauers und Viehzüchters mit törichten Vorurteilen betrachtete.

 

Die törichten Vorurteile: „Der Feldbau und die Viehzucht war von uralten Zeiten Sache der Könige und Helden: heuttags sind sie allein des untersten Pöbels Angelegenheit“, konstatierte der grosse böhmische Pädagoge Johann Amos Comenius 1658 in seinem „Orbis sensualium pictus: Die sichtbare Welt, das ist aller vornehmsten Welt-Dinge und Lebensverrichtungen Abbildung und Benennung“. Zweihundert Jahre lang lernten die Kinder mit diesem Lehrbuch Lateinisch und Deutsch; auch der junge Goethe und der junge Jean Paul. Bild und Wort zeigten ihnen:

 

Der Kühhirt bläset das Vieh aus den Ställen mit dem Kühhorn und führt es auf die Weide. (Buvucus evocat Armenta e Bovilibus Buccina Cornu & pastum ducit.) Der Schäfer weidet die Herde, versehen mit Sackpfeife und Hirtentasche wie auch mit dem Hirtenstab; bei sich habend den Rüden (Schafhund), welcher bewaffnet ist wider die Wölfe mit dem stachlichten Halsband. Die Schweine werden aus dem Trog des Schweinstalls gemästet. Die Meierin melket die Euter der Kuh an der Krippe über dem Melkschaff; und machet im Butterfass Butter aus dem Milchrahm und aus der Lab Käse. Den Schafen wird abgeschoren die Wolle, aus welcher gemacht werden allerlei Kleider.

 

„Heute“, sagt Jean-Luc Chollet, „arbeiten in der Landwirtschaft noch zwei Prozent.“ Ein Bauer könnte davon leben, sich stillzuhalten und die Gelder einzukassieren, die ihm der Staat für die Freihalteflächen entrichtet. Aber dann würde er nicht mehr „für die ersten und notwendigsten Bedürfnisse des Menschen“ sorgen. Und das entspricht nicht seinem Ethos.

 

Landarbeit ja, aber nicht Maximierung um jeden Preis. „Mir fehlt der Ehrgeiz“, sagt der Bauer aus Lausanne, dessen Vater zu den Biopionieren gehörte – in einer Zeit, als es den Begriff noch gar nicht gab. Von ihm lernte der Sohn, mit Vieh und Habe liebevoll umzugehen. Als er bei Antritt des Ruhestands die Herde veräusserte, lobte der Käufer: „Du hast deine Tiere zwar nicht hochgetrimmt, aber sie sind gut.“ – Jean-Luc Chollet war auf dem Weg geblieben, den „Geld und Geist“ beschreibt:

 

Er meinte, wenn man schon seine Leute nicht eis Tags [an einem Tag] töte, so zürnten sie einem deswegen nicht, und wenn das Vieh auch nicht sei was Menschen, so solle man doch auch Verstand gegen dasselbe haben; wofür hätte man es sonst. Es sei mancher, der gönne keine Ruhe weder Menschen noch Vieh, aber er sehe nicht, dass die gar weit kämen; was sie erzappelten, könnten sie dem Doktor geben oder dem Schinder. Die Tiere, welche er hatte, waren ihm alle lieb, und wenn er eins fortgeben sollte, so wars, als wollte man einen Blätz [Stück] von seinem Herzen damit. Er löste daher aus seinem Stall nicht viel, und mit den höchsten Preisen machte man ihm nichts feil, wenn es ihm eben ins Herz gewachsen war.

 

Auf dem letzten Bauernhof von Lausanne nahm das „würdige Ehepaar“ jedes Jahr einen Lehrling auf; insgesamt mehr als dreissig, die meisten aus der Deutschschweiz. Jedes Jahr besuchte es einen Tag lang die Heimat des Lehrlings, um seine Herkunft und Familie kennenzulernen. Und ein Vierteljahrhundert lang empfing Frau Chollet zwei Tage pro Woche die Klassen, um sie auf dem Hof „Vom Feld auf den Teller“ erleben zu lassen.

 

Die erste Stadtpräsidentin von Lausanne > Yvette Jaggi, die selbst am liebsten Bäuerin geworden wäre, hatte die Unterrichtseinheit eingeführt. Ihr Vater stammte aus einem Bauern-, ihre Mutter aus einem Winzergeschlecht. Als Mädchen verbrachte sie die Schulferien auf dem Hof der Grosseltern, und dazu noch die Heu-, die Kartoffel- und die Ernteferien.

 

Nun ermöglichte die Politikerin den Stadtkindern die Erfahrung der Landwirtschaft auf dem Hof der Familie Chollet. Und bei der Begegnung in den „Plans Fixes“ kann man erleben, was für ein Format ein Bauer im Sinne Gotthelfs annimmt, der sein Leben „in echter Gottesfurcht“ verbracht hat.

 

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