22. Mai 1942 –
Aufgenommen am 26. November 2003 in Neuenburg.
Guy Bovet – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)
> Guy Bovet ist in Thun aufgewachsen, dem Eingangstor zum Berner Oberland. Aber im Elternhaus wurde streng darauf geachtet, dass Französisch gesprochen werde. Aus diesem Grund lernte er erst in der Schule Deutsch (zusammen mit Latein und Griechisch). Und ausserdem, auf dem Pausenplatz, Bärndütsch. Doch nach seiner Kommunikationsart zu schliessen, stammt er aus Lakonien; also jener Landschaft im antiken Hellas, wo man lakonisch sprach: kurz, bündig, treffend, ohne umständliche Erklärungen und Wischiwaschi. <
Zwei Organisten verschiedener Generation kommen zur Aufnahme für die „Plans Fixes“ zusammen. Anfänglich waren sie Lehrer und Schüler; jetzt Kollegen, Zunftgenossen, Freunde. Der eine (Guy Bovet) ist 61, der andere (Emmanuel Le Divellec) 37. Im Gegensatz zur Schule befragt der Schüler den Lehrer. Rasch geht es zwischen ihnen hin und her: Frage – Antwort. Frage – Antwort. Gleich wie auf der Klaviatur die schwarzen und weissen Tasten nebeneinanderliegen, führt das Gespräch vor, dass Konversation „Wechselrede“ bedeutet.
Die Partner befleissigen sich der Lakonie, mithin der Kürze. „Kürze ist der Körper und die Seele des Witzes, ja er selber“, erklärte in der „Vorschule der Ästhetik“ Jean Paul 1804. Das Wort „Witz“ bedeutete damals „Esprit“ (einfallsreiche Geistesart). Diese Qualität manifestiert sich, Jean Paul zufolge, in der Kürze. Dazu bemerkte Goethe: „Der Drang einer tiefen Anschauung fordert Lakonismus.“
Im Stil des Lakonismus umreissen nun Guy Bovet und Emmanuel Le Divellec mit wenigen Strichen Wesen und Rolle der Orgel in objektiv-unbeteiligter Sprechweise. Sie veranschaulichen damit, was Rousseau unter Konversation verstand:
Man spricht von allem, vertieft sich aber nicht in Untersuchungen, um nicht Langeweile zu erregen; wirft nur im Vorbeigehen Fragen auf und handelt sie schnell ab; spricht deutlich und also auch zierlich.
Der schnellfüssige Charakter der Konversation ist mit der Lyrik verwandt. Walther Killy:
Der lyrische Dichter comprend toutes choses in wenigen Worten; der ausführlich erzählende, episch-didaktische schliesst eben dies aus – er würde nicht fertig.
In den „Plans Fixes“ fällt die Unterhaltung nicht episch-didaktisch aus, obwohl die Beteiligten Lehrer sind. Zum Zeitpunkt der Aufnahme unterrichtet Guy Bovet an der Musikhochschule Basel, Emmanuel Le Divellec an der Hochschule der Künste Bern. Beide haben ein enormes Wissen. Allein für die Westschweizer Fachzeitschrift „La Tribune de l'orgue“ verfasste Guy Bovet zweitausend Artikel. Und Emmanuel Le Divellec wurde 2011 Professor an der Musikhochschule Hannover.
Zusammen mit ihrem Vorgänger > Luigi Ferdinando Tagliavini sind sich die beiden Organisten einig, dass fürs Interpretieren von Musik exakte historische Kenntnisse wichtig sind. Aber beim Spielen muss man sie vergessen. Denn Gelehrsamkeit allein kann kein Leben schaffen. Demgemäss bewegen sich die Künstler zwischen den Polen Gefühl und Verstand.
So gut nach den Gesetzen der Grossultan ausser dem Regieren noch ein Handwerk (nach Rousseau auch der Gelehrte eines) treiben soll, so möge [sollte] ein junger Schreib- und Dichtkünstler neben dem Dichten noch Wissenschaften treiben, z. B. Sternkunde, Pflanzenkunde, Erdkunde u. s. w.
Das führte Jean Paul in Paragraph 1 der „Kleinen Nachschule zur ästhetischen Vorschule“ aus. Zur Bekräftigung nannte er Goethe, „der sich wirklich auf so viele Wissenschaften gelegt [hat], als habe er nie einen Vers gemacht“.
Wie weit man es mit diesem Programm bringt, zeigt sich an der Biographie von Emmanuel Le Divellec. Er studierte von 1985 bis 1990 Physik und Astronomie an der Universität Paris-Süd. Was für eine Vorschule! – Jean Paul:
Jede Wissenschaft, jeder Stand, jedes Alter, jedes Jahrhundert machen einseitig und verrücken das Altarblatt des Universums zu einem Vexierbild; also lerne und versuche und erlebe, so gut du kannst, alles, wenigstens allerlei! – Beschütze gegen die Despotie jedes Systems deine höhere poetische Freiheit durch das Studium aller Systeme und unähnlicher Wissenschaften.