Rolf Kesselring: Wer hat Angst vor Rolf Kesselring?

26. Oktober 1941 – 30. Juli 2022.

 

Aufgenommen 22. Februar 1991 in Romanel-sur-Morges.

Rolf Kesselring – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Vier Monate vor der Aufnahme ist Rolf Kesselring 49 Jahre alt geworden. Bei ihm sind Bart und Haare schon blendend weiss. Der 59-jährige Bertil Galland, der ihn befragt, weist dagegen erst ein paar graue Strähnen auf. Die beiden sind Verleger. Doch jetzt, wo die Eidgenossenschaft ihr 700-jähriges Bestehen feiert, fangen sie neu an: Rolf Kesselring wandert nach Südfrankreich aus, wo sich seine Spur verliert. Bertil Galland dagegen bleibt in Lausanne und gründet zusammen mit Jacques Pilet „Le Nouveau Quotidien“, die Vorgängerzeitung von „Le Temps“. <

 

In seinen verschiedenen Gefässen spricht SRF heute, am 6. April 2025, von den „Scanner-Persönlichkeiten“. Diese „Menschen mit vielen Interessen und Begabungen wollen oft mehr als nur einen Job. Doch auf dem Arbeitsmarkt ecken sie damit an.“ Rolf Kesselring fällt unter die Definition, „die die amerikanische Unternehmerin und Karriereberaterin Barbara Sher seit 1979 in mehreren Büchern prägt. Damit gemeint sind vielbegabte Menschen; ,Universalgenie’ oder ,Tausendsassa’ wären andere Bezeichnungen. Das kann Fluch und Segen zugleich sein.“

 

In der Tat. Fluch und Segen haben Rolf Kesselrings Bart und Haare vorzeitig gebleicht. Vom Vater getrennt, wuchs der Bub in Aigle auf. Die Mutter betrieb eine Wirtschaft. Viel Zeit fürs Kind hatte sie nicht. Aber unterhalb des Städtchens befand sich das Paradies: die unkorrigierte Rhone. Der Tierfilmer und -fotograf > René-Pierre Bille hat sie ein paar Flusskilometer weiter oben auch besucht: „Ich wusste genau, wo sich die Fische versteckten. Ich brauchte bloss mit dem Arm hinzulangen, um eine Forelle hervorzuziehen.“

 

So gab es neben dem normalen Leben noch ein anderes. Nicht verwunderlich, gründete Rolf Kesselring mit dreissig in der Westschweiz ein halbes Dutzend Buchhandlungen mit dem Firmennamen „La Marge“ (der Rand): Kultorte für Underground-Literatur und Comics für Erwachsene. Die Bücher entzogen sich dem Jugendschutzparagraphen und zeigten, wie der Porträtierte sagt, „Titten, Schwänze, Ärsche“. Er vertrieb sie in den „Editions Kesselring“, in denen er sein erstes, selbstverfasstes Buch herausgebracht hatte: „Martiens d’avril“ (April-Marsmenschen).

 

Erzeugt wurden die Bücher der „Editions Kesselring“ bei > Henri Cornaz in Yverdon. Der weltoffene Unternehmer druckte schon „El Moudjahid“, das Organ des algerischen Widerstands, für dessen illegalen Export nach Frankreich > Jean Mayerat ein Jahr lang in Besançon hatte einsitzen müssen. Auch er übrigens eine „Scanner-Persönlichkeit“: Bäcker, Postbote, Architekturzeichner, Politiker, Aktivist, Filmemacher – und schliesslich Mitbegründer der „Plans Fixes“.

 

Dass es neben dem normalen Leben noch ein anderes gab, hatte Rolf Kesselring ebenfalls von seinem „Grossvater“ erfahren. In Wirklichkeit war der in Aigle hochgeachtete Jurist, Lokalpolitiker und Offizier Freimaurer und Geliebter der Mutter. Weil er gut zwanzig Jahre älter war als die Frau, musste ihn der Junge aus Konvenienzgründen „Grossvater“ nennen.

 

Durch seine Erziehung wurde er geprägt. Er musste dem Offizier der Schweizer Armee schwören, niemals Militärdienst zu leisten. Durch ihn wurde er mit sechzehn Jahren in den Freimaurerorden aufgenommen. In der Bibliothek des „Grossvaters“ musste er abwechselnd die vorderen und die hinteren Bücher durcharbeiten: Vorne die anständigen, die, wie Balzac, zur Bildung gehören, hinten die unanständigen, die vom Unterdrückten sprechen. Leitfigur war Alessandro Graf von Cagliostro (1743–1795), Okkultist, Alchemist, Hochstapler, Quacksalber, Scharlatan, Abenteurer, Freimaurer, kurz: „Scanner-Persönlichkeit“.

 

Als sich die Frage der Berufswahl stellte, absolvierte Rolf Kesselring eine Reihe von Aufnahmeexamen, die er alle bestand ausser dem ersten, ersehntesten: Flussschiffer. „Dafür war mein Deutsch nicht gut genug.“ Aber für Grafik und Hochseeschiffahrt hätte die Begabung gereicht. Doch die Mutter presste ihn ins Lehrerseminar, wo er das finden sollte, was ihr versagt geblieben war: Sicherheit, Pensionsanspruch, bequeme Arbeit mit freien Nachmittagen, und viele, viele Ferien.

 

Die Ausbildung fiel ihm leicht. Doch während der Examensperiode erreichte ihn die Mitteilung, der Grossvater liege am Sterben. Er wünsche, ihn zu sehen. Vor dem Eingang zum Schulgebäude liess sich Rolf auf einer Mauer nieder und kam zum Entschluss, die Prüfung fahrenzulassen. In dem Moment kam der Französischlehrer vorbei. Er erkundigte sich nach dem Müssiggang. Als er vernahm, was Sache sei, erklärte er: „Damit fliegst du aus dem Seminar. Ab jetzt werden sich für dich 99 Türen schliessen. Aber eine wird offenbleiben: die mit der Feder.“

                            

Der junge Mensch setzte sich zum sterbenden Grossvater. Der zog gelassen Lebensbilanz; sprach von Frauengeschichten; von glücklichen und verpassten Gelegenheiten; und redend überschritt er die Schwelle zum Tod. – Nicht verwunderlich, kam Rolf Kesselring später auf den Firmennamen „La Marge“ (der Rand). Er überschritt ja selber gleich den Rand und kam hinüber; zuerst in eine Verwahrungsanstalt, dann ins Gefängnis.

 

Das Verfahren wurde veranlasst durch den Umstand, dass er mit 17 bei einer Geliebten eingezogen war. Sie war 21 Jahre alt. Deshalb betrieb sie, vom Gesetz her gesehen, „Unzucht mit einem Minderjährigen“. Aufgrund verschiedener Anzeigen („wohl auch von meiner Mutter“) schaltete sich die Fürsorgebehörde ein und versetzte den jungen Mann in eine geschlossene Anstalt. Von dort büxte ein paarmal aus.

 

Als er in Lausanne flüchtig herumirrte, stiess er auf einen früheren Anstaltskameraden: „Kannst bei mir übernachten.“ Er versorgte ihn mit Geld. Doch nach ein paar Tagen sagte er: „So, jetzt müssen wir arbeiten!“ Er brachte seinen Schützling in ein Wohnhaus: „Drück diese Türe auf!“ Mit dieser Tat wurde Rolf Kesselring vom Sozialfall zum Kriminellen.

 

Die Karriere führte ihn für drei Jahre ins Gefängnis. Es bot ihm Gelegenheit, das Schreiben zum Handwerk zu machen. Vom Grossvater hatte er gelernt: „Mach dir über alles Notizen!“ Aus diesen Notizen entstanden nun seine Texte, Bücher und Comics. „Ich wollte ja hinaus. Das Schreiben bot den Weg.“ „L’Illustréé“ druckte die Geschichten des Häftlings ab. „Ich war gut bezahlt und konnte mir im Gefängnisladen kaufen, was ich wünschte.“ Ein späterer Titel, „La Quatrième Classe“, handelt von dieser Welt. Die Sträflinge bezeichneten mit der „vierten Klasse“ das Gefängnisabteil der Postwagen, in dem sie von einem Ort zum andern transportiert wurden. – Im Knast lernte Rolf Kesselring einen Journalisten kennen. Er büsste ein Verkehrsdelikt ab und nahm sich nach der Entlassung des 27-jährigen Berufslosen an.

 

In der Freiheit führte eine Begegnung zur nächsten, und am Ende nach Paris. Als Autor, Grafiker und Verleger (eines seiner Magazine soll die Auflage von 560’000 erreicht haben) wurde Rolf Kesselring so bekannt, dass ihm am Ende die Fans verleideten.

 

Damit erging es ihm wie der 30-jährigen Stefanie Sargnagel, Autorin und Cartoonistin wie er:

 

Direkt blöd angesprochen wurde ich noch nie auf der Strasse, eher von Studenten, die meine Sachen gut finden, aber das ist auch nicht wirklich angenehm. Neulich hat jemand aus meinem Gemeindebau im fünften Bezirk, eigentlich eine Arbeitergegend, gesagt, dass er mich im Fernsehen gesehen hat. Das war next level, jetzt kennen die mich auch! Im Supermarkt wurde ich letztens von einem Kassierer angesprochen. Ich will nicht, dass der jetzt weiss, was ich kaufe, am Ende macht er dann auch noch Fotos fürs Internet.

 

Selbstkritisch führt die Wienerin aus:

 

Ich glaube, dass die Konzentrationsfähigkeit leidet, wenn man sich zu viel im digitalen Raum aufhält. Ich merke zum Beispiel, dass es mir immer schwerer fällt, Bücher zu lesen. Ich habe früher sehr viel gelesen. Jetzt bin ich es einfach schon so gewohnt, von einem Gedanken zum anderen zu springen, dass ich oft nicht mehr wirklich die Konzentration habe, mich über den schwierigen Anfang von etwas hinwegzubewegen. Man wird ein bisschen ADS-mässig. Das ist eine Krankheit unserer Zeit, nicht nur Kinder haben das. Die digitalisierte Welt hat nichts Kontemplatives, Ruhe und Geduld gehen verloren. Ich kann mir zum Beispiel mein Leben ohne die [bewegten] Anzeigen bei den Strassenbahnhaltestellen nicht mehr vorstellen.

 

Auch Rolf Kesselring kommt nicht ohne bewegte Bilder aus:

 

Bei mir laufen ständig die Fernseher. Wenn sie nichts mehr bringen, schiebe ich Kassetten ein. Ich brauche nämlich das Flimmern der Bildschirme. Sonst kann ich nicht schreiben.

 

Die Erklärung für dieses Phänomen liefert der Wiener Autor und Kaffeehausgänger Franz Schuh:

 

Es ist ein Phänomen, dass es Leute gibt, die sich in einer zerstreuten Atmosphäre äusserst gut konzentrieren können. Sie haben in der Stille ein Selbstüberwindungsproblem. Sie fallen, wenn Stille herrscht, total auf sich zurück und sind blockiert vom Anspruch, etwas tun zu müssen. Das Kaffeehaus mit seinem Lärm ist eine Art von Zerstreuung, die ihnen die nötige Konzentration ermöglicht.

 

Geprägt von seinem „Grossvater“ hatte Rolf Kesselring viele, viele Frauengeschichten. Die Mutter seiner Tochter (sein Ausdruck) heiratete er, weil sie 16-jährig war.

 

Hinter den Wegen und Begegnungen steht die Triebkraft des Eros. Auf ihn verwies bereits 1907, also lange vor dem heutigen 6. April 2025, Hugo von Hofmannsthal, der Lyriker, Dramatiker, Erzähler, Essayist und Wiener. – Als Zeitgenosse von Sigmund Freud analysierte er Wesen und Beweggrund der „Scanner-Persönlichkeiten“:

 

Es ist sicher, dass das Gehen und das Suchen und das Begegnen irgendwie zu den Geheimnissen des Eros gehören. Es ist sicher, dass wir auf unserm gewundenen Wege nicht bloss von unsren Taten nach vorwärts gestossen werden, sondern immer gelockt von etwas, das scheinbar immer irgendwo auf uns wartet und immer verhüllt ist. Es ist etwas von Liebesbegier, von Neugierde der Liebe in unsrem Vorwärtsgehen, auch dann, wenn wir die Einsamkeit des Waldes suchen oder die Stille der hohen Berge oder einen leeren Strand, an dem wie eine silberne Franse das Meer leise rauschend vergeht. Allen einsamen Begegnungen ist etwas sehr Süsses beigemengt, und wäre es nur die Begegnung mit einem Tier des Waldes, das lautlos anhält und aus dem Dunkel auf uns äugt. Mich dünkt, es ist nicht die Umarmung, sondern die Begegnung die entscheidende erotische Pantomime. Es ist in keinem Augenblick das Sinnliche so seelenhaft, das Seelenhafte so sinnlich als in der Begegnung. Hier ist alles möglich, alles in Bewegung, alles aufgelöst. Hier ist ein Zueinandertrachten noch ohne Begierde, eine naive Beimischung von Zutraulichkeit und Scheu. Hier ist das Rehhafte, das Vogelhafte, das Tierischdumpfe, das Engelsreine, das Göttliche.

 

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