Michel Wolfender: Maler und Gravierer.

 Pl 3. August 1926 – 16. Dezember 2020.

 

Aufgenommen am 1. März 1999 in Rolle.

Michel Wolfender – Association Films Plans-Fixes

 

> Vor der Kamera der „Plans Fixes“ will der 72-jährige Maler und Gravierer Michel Wolfender nicht von sich reden, sondern von den Begegnungen mit der Kunst. Seinen grossen Vorgängern verdankt er, was er ist und tut und sucht, wenn er Pinsel und Stift in die Hand nimmt, um einen Kohlkopf, ein Felsband oder einen Hohlweg in die Zweidimensionalität zu bannen. <

 

Nach der Kindheit in St-Imier und dem Gymnasium in La Chaux-de-Fonds absolviert Michel Wolfender die Ecole des Beaux-Arts in Genf. Das übermittelt nicht er, sondern sein Gesprächspartner Maurice Born. Er selber setzt erst mit dem Ende der Ausbildung ein. Da führt ihn die Reise in die Kunst.

 

Im Alter von 28 Jahren unternimmt Michel Wolfender das Projekt, zusammen mit einem Studienkollegen, dem Genfer Bildhauer Henri Presset, mit dem Velo sämtliche Pilgerwege zu befahren, die durch Frankreich nach Santiago de Compostela führen. Sie erleben noch mittelalterliche Landschaften. 1954 sind kaum Autos unterwegs. Dafür werden die Felder durch Ochsengespanne gepflügt. Vom melodischen Zuruf des Menschen gelenkt, ziehen die grossen, weissen Tiere ihre Furchen wie ein Gewebe über die Erde.

 

Eine weitere Offenbarung vermitteln die romanischen Kirchen: „Sie erinnern an den mythischen Wald.“ Michel Wolfender stellt mit seinen Händen den Portikus in den Raum. Oben thront Christus. Die Darstellung bezeugt:

 

Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit des eingebornen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.

(Joh. 1, 14)

 

Tritt man in die Kirche, wird man von ihrer architektonischen Perfektion erfasst. Sie vollzieht die Verbindung von Materie und Geist, Leib und Seele. Die vier Gewölbe des Altarraums symbolisieren die Vollkommenheit der Schöpfung. Die Kuppel ruht auf vier Säulen, welche in ein Achteck übergehen, Zeichen fürs Übernatürliche: In sieben Tagen hat Gott die Welt erschaffen. Am achten, jüngsten und letzten Tag, wird er die Schöpfung vollenden und den neuen Äon anbrechen lassen, das heisst die Herrlichkeit des Gottesreichs.

 

Auf ihrer Reise kommen die Velofahrer auch in die Höhle von Lascaux. Eben erst ist sie den Publikum zugänglich geworden. Eine weitere Offenbarung. Michel Wolfenders Gesicht beginnt zu leuchten: „Da hat ein Genie vor 17’000 Jahren mit dem Lasso des Strichs die Tiere gebändigt, die ihm Furcht einjagten. Zuerst hat er sie in sich aufgenommen und danach Wesen hervorgebracht, die weder Tier noch Mensch sind, sondern beides zugleich.“

 

Hinter den Bildern > Robert Hainards steht eine vergleichbare Haltung. Um das Tier zu verstehen, schlich der Genfer Maler in die Natur und wartete bei Kälte, Regen, Schnee reglos lange, lange Zeit, eine, zwei, drei Wochen, bis es herankam. Dann kreuzten sich für einen Moment die Blicke ... und weg. Der Künstler aber nahm die Bewegungen des Tiers in seine Muskeln auf. So gelang es ihm, noch vor der Erfindung des Wortes „ganzheitlich“, den Charakter des animalischen Wesens durch Mimetismus wiederzugeben.

 

Michel Wolfender entdeckt auf seiner Lebensreise die alten chinesischen Maler. Sie reagieren auf das All, das uns umgibt, mit einem einzigen, durchgehend gezogenen Strich. Er trennt das Universum in zwei Teile. Die Zahl zwei umfasst sämtliche Wesen der Schöpfung. Sie bedeutet Yin und Yang. Der Schöpferatem aber lebt in der Welt, im Künstler und im Bild.

 

Das Werk von Michel Wolfender ist in der zeitgenössischen Kunstlandschaft einzigartig. Seit fast sechzig Jahren zeichnet, graviert und malt der jurassische Künstler Details aus seiner Welt. Der Pflaumenbaum in seinem Garten, ein Kohlkopf, eine Baumallee, eine sterbende Kiefer, ein Felsband werden minutiös erkundet. Der Weg „von Tauchgang zu Tauchgang“, um seine Worte zu brauchen, wo jede Wiederkehr das Thema vertieft, gleicht einer spirituellen Suche. Die Bilder, die dabei entstehen, stellen die Frage nach dem Geheimnis des Lebens und den Grundlagen des menschlichen Seins.

(Mémoires d’Ici, Saint-Imier, 2016.)

 

Vor Michel Wolfenders Bildern empfindet der Betrachter, was Heinrich Spinner über die die Vogeldarstellungen der Malerfamilie Robert festgehalten hat:

 

Er geniesst nicht nur ‚schöne Bilder’, sondern wird, auch bei sachlicher Kargheit, mithineingezogen in eine Naturfrömmigkeit, die ihm ein besonderes Erlebnis bedeuten kann. Nicht ohne Grund denkt man bei der entsagungsvollen, endlosen Kleinarbeit an die Arbeit mittelalterlicher Mönche. Die Zuwendung zur Schöpfung wird als eine Ehrung empfunden, die nicht das Objekt für einen künstlerischen Zweck verwendet und deshalb sozusagen missbraucht. Der Betrachter spürt, vielleicht unbewusst, eine Andacht und Demut, und das ergreift ihn. Wie wenn Tiere und Pflanzen ein Gegenüber wären, dem man mit Ehrfurcht begegnet.

 

So zeigt die Begegnung mit Michel Wolfender, was ein Maler ist und tut und sucht, wenn er Pinsel und Stift in die Hand nimmt, um den Baum, der im Hof vor dem Atelierfenster steht, in die Zweidimensionalität zu bannen.

 

Goethe aber hat das Phänomen in Worte zu fassen vermocht:

 

Die vornehmste Forderung, die an den Künstler gemacht wird, bleibt immer die: dass er sich an die Natur halten, sie studieren, sie nachbilden, etwas, das ihren Erscheinungen ähnlich ist, hervorbringen solle.

 

Wie gross, ja wie ungeheuer diese Anforderung sei, wird nicht immer bedacht, und der wahre Künstler selbst erfährt es nur bei fortschreitender Bildung. Die Natur ist von der Kunst durch eine ungeheure Kluft getrennt, welche das Genie selbst, ohne äussere Hilfsmittel, zu überschreiten nicht vermag.

 

Alles, was wir um uns her gewahr werden, ist nur roher Stoff, und wenn sich das schon selten genug ereignet, dass ein Künstler durch Instinkt und Geschmack, durch Übung und Versuche dahin gelangt, dass er den Dingen ihre äussere schöne Seite abzugewinnen, aus dem vorhandenen Guten das Beste auszuwählen und wenigstens einen gefälligen Schein hervorzubringen lernt, so ist es, besonders in der neuern Zeit, noch viel seltner, dass ein Künstler sowohl in die Tiefe der Gegenstände als in die Tiefe seines eignen Gemüts zu dringen vermag, um in seinen Werken nicht bloss etwas leicht und oberflächlich Wirkendes, sondern, wetteifernd mit der Natur, etwas Geistig-Organisches hervorzubringen und seinem Kunstwerk einen solchen Gehalt, eine solche Form zu geben, wodurch es natürlich zugleich und übernatürlich erscheint.

(Einleitung in die Propyläen.)

 

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